Aus dem Buch "Lebendige Sprachinseln"
SIEBEN GEMEINDEN (SIBEN KAMOUN) / SETTE COMUNI -
Zimbrische Gemeinschaft in der Provinz Vicenza
Sieben Gemeinden (Siben Kameun)-Sette Comuni: das Dorf Roana-Robaan
DIE ZIMBERN DER "SIEBEN GEMEINDEN"
»Cimbria« nannte der humanistische Dichter Ferreto dei Ferreti im 14. Jh. die Stadt Vicenza. Cimbria – dieser Mythos zieht sich seit jenem fernen 100 v. Chr. durch die Jahr hunderte, als der römische Feldherr Gaius Marius die Zimbern und Teutonen besiegte, die aus deutschen Landen auf der Suche nach Boden und Sonne in den Süden gekommen waren. Sie kamen – in Gruppen von Familien und ganzen Stämmen – aus Deutschland, der genaue Ursprung lag etwa in Obersachsen, von wo die alten, von den römischen Historikern erwähnten Zimbern losgezogen waren. Auf diesen Straßen, die seit vielen Jahrhunderten zahlreiche Völker, oft unter blutigen Auseinandersetzungen, doch stets mit intensiver Durchdringung, begangen hatten, wurde ein Großteil der europäischen Kultur gewoben. Nicht mehr Zimbern, auch nicht Goten und Langobarden, vielleicht viel später Alemannen, aber sicher ließen Bayern sich rund 1000 Jahre später auf der Suche nach Boden und Sonne in verschiedenen italienischen Regionen nieder.
Auch wenn die Bezeichnung Cimbria nicht ganz die kulturelle und volkliche Identität von Vicenza bedeutet haben kann, muss sie doch etwas mehr als ein mythologischer Bezug und eine poetische Idee gewesen sein. Graf Francesco Caldogno, Inspektor an den Grenzen der Republik Venedig im 16. Jh. und Verfasser eines Berichts über die Vicentiner Voralpen, schrieb, dass » diese Menschen der Sieben Gemeinden sprechen so wie alle anderen der Vicentiner Berge auch die italienische Sprache. Vor nicht allzu vielen Jahrzehnten hat ein Teil von ihnen, der nahe der Stadt wohnt, die eigene ursprüngliche Sprache – die dem Gotischen ähnlich war – verloren«. Zu Beginn des 16. Jh. wurde also die Sprache, die man Zimbrisch nennt, bis in das Gebiet von Vicenza gebraucht. Der gotische Stil, der in Kirchen und Palästen des 13. und 14. Jh. tiefe Spuren hinterlassen hat, war in Vicenza sicher etwas mehr als ein Baustil. Ortsnamen, Traditionen, religiöse Gebräuche, verschiedene Elemente weisen heute noch auf diese germanischen Wurzeln im gesamten Raum von Vicenza hin: der Name der Monti Berici, die Feier der Madonna am 8. September, ein gewisses raues, starkes Temperament, das nicht nur für die vicentinische Bergbevölkerung charakteristisch ist. Viele Züge deuten auf ein germanisches kulturelles Erbe hin, das unbewusst weitergegeben wurde, auch wenn es im Laufe der Zeit durch verschiedene kulturelle Einwirkungen abgeschwächt wurde, wie etwa die Verbreitung des christlichen Glaubens, die Venetisierung durch Venedig, die vom italienischen Staat forcierte Nationalisierung. Trotz der Wandlungen und vor allem trotz der Vermassung und der Gleichschaltung, die mit der modernen Wirtschaft einhergegangen sind, sind im Berggebiet von Vicenza die Bezüge auf die germanische und die sogenannte zimbrische Kultur noch lebendig.
Es liegen zahlreiche zimbrische Ortsnamen vor, eine breite Palette von Wörtern zur Bezeichnung von Stätten, in denen einst reges Leben und Treiben herrschte und die größtenteils bereits verlassen wurden oder diesem Schicksal entgegen blicken. Wie einmal bemerkt wurde, sind »die Ortsnamen, die fest mit der physischen Realität verbunden und quasi in den Boden und in die gesellschaftliche Landschaft eingeprägt sind, das Element, das den Veränderungen des linguistischen Erbes am hartnäckigsten widersteht«. So finden wir noch heute von Altissimo bis Recoaro, vom Tretto di Schio bis Tonezza und vor allem auf der Hochebene der Sieben Gemeinden, von Rotzo bis Enego, eine Gesamtheit zimbrischer Namen vor, die auf geografische Besonderheiten, Arbeiten und historische Ereignisse, Gebilde der Fantasie und der Volksmythologie hinweisen. Im gesamten vicentinischen Berggebiet sind Wörter verbreitet wie tal ebene, loch, bise (Wiese), spitz, laita (Leite), gruba, linta (Platz der Linden), lerch (Platz der Lärchen) … In Lusiana stoßen wir auf die contrada Soster (Straße der Schuster), in Enego auf die contrada Stoner (Straße der Steinmetze), in Gallio auf die contrada Stellar (Straße der Ställe; davon leitet sich auch der Familienname Stella ab), in Roana auf das Tanzerloch, die coolgruba (Kohlengrube), den kaltaprunno (kalter Brunnen), den oxabeck (Straße der Ochsen), das rossa begale (den Rösserweg) … In Asiago finden wir den Kabarlaba (die Haferlache), den prunno (den Quellenplatz), den rasta (Platz zum Rasten) vor … Diese Wörter werden von allen, auch von vielen Touristen gebraucht, ohne dass die Bedeutung bekannt ist. Sie sind wie Fossilien, alte Formen der Sprache und Kultur, Spuren einer Jahrhunderte alten Vergangenheit, die nicht ganz gelöscht wurde, in der Bezüge auf den Ursprung und die Geschichte der sogenannten zimbrischen Volksgruppen auftauchen. Die Sprache, die heute noch von wenigen älteren Menschen in Roana und Mezzaselva lebendig erhalten wird, ist das einzige Dokument, das uns hilft, das zimbrische Phänomen zu deuten, das trotz der Forschungsarbeiten und Studien, die im historischen und linguistischen Bereich in den letzten Jahrhunderten angestellt wurden, noch nicht klar ist.
Einige Experten bringen die zimbrischen Volksgruppen mit den langobardischen Wanderzügen, die das Gebiet von Vicenza so nachhaltig beeinflusst haben, in Verbindung. Man denke an die Basilika »San Felice e Fortunato« in Vicenza, die in der Langobardenzeit im 9. und 10. Jh. zu einem Zentrum des wirtschaftlichen und kulturellen, nicht nur religiösen Lebens geworden war. Das Hügelgebiet mit dem Ort Fara Vicentina ist übersät mit Erinnerungen an die Siedlerzeit und das Leben der Langobarden. Familien und Gruppen dieses germanischen Volkes sollen in die Berge geflüchtet sein und in der Einsamkeit ihre Merkmale und Kultur bewahrt haben. Auf der Hochebene der Sieben Gemeinden herrscht noch das Gemeinschaftsrecht vor, ein auf kollektives Eigentum bezogenes Rechtsverhältnis zwischen den Einwohnern und dem Kommunalgebiet, dem die Historiker langobardischen Ursprung zuschreiben.
Andere Wissenschaftler meinen, dass sich die zimbrische Tradition von der bayrischen Kolonisation ableite, die im 13. und 14. Jh. im Raum der Marca Veronese erfolgte, als sich Familien und Gruppen aus Bayern hier in den Vicentinischen und Veroneser Bergen zwischen Etsch und Brenta auf der Suche nach Land niederließen, das sie im Gefolge von Bischöfen und Grafen roden, bebauen und besiedeln konnten. Eine Urkunde, die in einem Benediktinerkloster in Bayern gefunden wurde, besagt, dass Familien » in tempore famis«, zur Zeit einer Hungersnot, gezwungen waren, aus Deutschland in die Venetischen Berge Alcuni zu flüchten. Die beiden Auslegungen könnten in Verbindung miteinander auf verschiedene, stete Zuwanderungen germanischer Volksgruppen hinweisen, die sich vom 8. bis 15. Jh. in den Vicentiner Bergen niederließen. Aus einer linguistischen Analyse geht hervor, dass Schichten bairischer Sprache mit Elementen anderer deutscher Dialekte und mit Merkmalen der altdeutschen Sprache vermischt wurden. Ein nicht zu vernachlässigendes historisches Detail ist die Tatsache, dass die Pfarren der Vicentiner Berge (wie die Hochebene der Sieben Gemeinden) zwar bis zum 15. Jh. den Diözesen Vicenza und Padua angehörten, doch von deutschen Geistlichen und Mönchen geführt wurden, was sicher auf Erfordernisse der sprachlichen Kommunikation zurückzuführen ist. Ein stark alpiner Einschlag ist auch in den Märchen und Sagen zu erkennen, die im Berg und Hügelgebiet bis in die jüngere Zeit verbreitet waren, bevor das Fernsehen und die Massenkultur das ungeheure, im Laufe von Jahrhunderten und Jahrtausenden gesammelte Gut der Erinnerung und der Vorstellungswelt des Volkes löschten. Erzählungen von Menschenfressern und Hexen, von roten Hornsträuchern und Seleghen Baiblen (seligen Weiblein), von sprechenden Bäumen und Tieren waren durchdrungen von Angst und Faszination und lehnten sich an einen Animismus an, der eng mit der Natur der Bergwelt verbunden war. Ein Historiker des letzten Jahrhunderts bemerkte: »Aus der Seele unserer Völker konnte viel Aberglaube nicht ausgemerzt werden, der ständig durch Besonderheiten der Umgebung und durch eine urwüchsige, blühende Fantasie genährt wird … Man glaubte, Geister zu sehen und zu hören, die für das Gute und das Böse standen, von denen jeder einen Namen, eine Gestalt, eine individuelle Macht hatte«. Die Sonne – in zimbrischer Sprache de sunna – wurde wie eine gütige Gottheit gesehen – man rief sie am Ende des langen, harten Winters an: »Aussar sunna, mutar bon pi tokken« – »Komm heraus, oh Sonne, Mutter der Armen.« Der Mond – dar mano – galt als kosmische Kraft, die den Rhythmus der Generationen und der Zeit bestimmte. Gewitter und Donner waren gefürchtet wie Drohungen des Teufels, des toibel. In vielen Ausdrücken und Gebräuchen konnte man den Widerhall der nordischen heidnischen Religiosität erkennen, die sich auf Kulte stützte wie die Verehrung der Mutter Gottes in Prea , der Erdmutter, Thor, dem Gott des Donners und der Blitze, Wotan, dem größten Gott in den altgermanischen Religionen. Manche Zeugnisse zeigten eine Vermischung von Zügen des heidnischen Naturalismus mit Elementen des christlichen Glaubens, wie die Sage von einem Holzfäller, der eines Tages in die Berge ging, um Holz zu hacken, als er plötzlich die Stimme einer Fichte hörte, die ihn bat, zur Erlösung ihrer Seele drei Messen lesen zu lassen. Andere Erzählungen handeln von Hexen und Ungeheuern, die auf dem Monte Portule durch die Segnung von Bischöfen und Mönchen in die Flucht geschlagen wurden.
Sieben Gemeinden (Siben Kameun)-Sette Comuni: Die Ortschaft Asiago-Sleghe und die Hochebene
Der Reiz des Schrecklichen und Düsteren war stärker in den Geschichten ausgeprägt, die in den löchar handelten, den Karsthöhlen, wie sie zahlreich im Gebiet der Sieben Gemeinden anzutreffen sind: Es sind Märchen von tanzenden Hexen (wir haben bereits das tanzerloch bei Camporovere erwähnt), von Kindern, die verschluckt wurden und verschwanden (giacominarloch bei Cesura), von geheimnisvollen Stimmen, die hie und da zu vernehmen sind (covolo del vento bei Enego). Neben der Sprache und der Sagenwelt verbanden auch viele Sitten und Gebräuche die zimbrischen Volksgruppen mit der Kultur jenseits der Alpen – Arbeit auf den Feldern, in den Wäldern, in den Häusern, Rituale in Verbindung mit Festen und Jahreszeiten. Um nur einige Beispiele zu nennen, die zum Teil noch erhalten sind: Das Dreikönigsfest wurde Draikaisertak genannt und von Liedern und Gebräuchen begleitet, die in Bayern verbreitet sind. Der Fasching, Fassong auf Zimbrisch, wurde mit Masken und Tänzen ausgiebig und hemmungslos gefeiert, wie es auch in manchen deutschen Regionen Sitte ist. Die Schneeschmelze als Frühlingsbote wurde mit lautem Schellengeläute in den Straßen und mit dem Lied empfangen: »Scella, scella a marzo, garibet de Kapuccen, aussar de rajkken« (klinge, klinge März, zu Ende ist das Kraut, heraus mit der Zichorie). Noch heute findet in Recoaro am letzten Sonntag im Februar ein großes Volksfest mit einem Umzug von Karren und Folkloregruppen statt, die alle um das Frühlingsthema kreisen. Bereits im 18. Jh. bemerkte Dal Pozzo: »In dieser Berginsel herrscht der kuriose, auch in Tirol gepflegte Brauch, in den drei letzten Februartagen den Monat März anzurufen, damit er rasch komme. Alle Jungen der Nachbarschaft versammeln sich am Abend und beginnen bei Einbruch der Dämmerung mit Schellen, Glocken, Töpfen und anderen Geräten, die Lärm erzeugen, einen schrecklichen Wirbel zu schlagen; nachdem sie sich ungeordnet auf eine Erhöhung begeben haben, von wo sie weithin zu hören sind, entzünden sie dort große Feuer und rufen abwechselnd: »März, komm doch, März«. Von eigener nordischer Ausstrahlung waren die Riten der Osterwoche, die auch in naturalistischer Art erlebt wurden, wie etwa am Karfreitag, dem Vraitertak, an dem keine Feldarbeit getan wurde, »um den Herrn nicht zu schlagen, der heute für die ganze Welt gestorben ist«.
Von großer Bedeutung waren auch andere Frühlingsfeste in Verbindung mit den christlichen Anlässen Himmelfahrt und Pfingsten. Asiago feiert immer noch am Vortag des Himmelfahrtsfestes, inmitten prachtvoll erblühter Wiesen und Wälder, den schönsten Tag des Jahres, den Tag des großen Bittgangs, an dem die gesamte Ortsgemeinschaft in einer langen Prozession einen Weg über 30 km zurücklegt, um die feste Bindung zum Boden zu bekunden. Mit großer Begeisterung wurden auch die Nächte des Hl. Johannes begangen, die heute vergessen, doch von Historikern gut belegt sind. Es waren die Nächte der Sommersonnenwende, die den Weihnachtsnächten der Wintersonnenwende entsprachen. Man entzündete große Feuer (Feuer als Fest, sakrales Zeichen des Lichtes, der Wärme, des Lebens) und nahm nach den Feiern der Nacht, entsprechend einer Sitte langobardischen bzw. heidnischen Ursprungs, Reinigungen mit dem Tau vor.
Stark und obskur war die Beziehung zu den Verstorbenen. In der Halghe nacht bon totem, der heiligen Nacht der Toten, »durfte man das Haus nicht verlassen, da sonst die Toten gekommen wären, einen zu holen«, wie eine alte Frau von Roana berichtete. Man glaubte, in dieser Nacht würden die Seelen zurückkehren, um ihre Häuser zu besuchen.
Das große Winterfest schlechthin, das im germanischen Kulturkreis intensiv begangen wurde, war Weihnachten, auch als Fest der Sonne, denn die Tage verlängern sich wieder. Mit großer Anteilnahme beteiligte man sich an Gebräuchen, Ritualen, Gesängen, wie um Kraft zu schöpfen und die Solidarität zu stärken, um die Mühen des Daseins bewältigen zu können. In dieses Fest mit einbezogen wurde auch das Vieh, das um Mitternacht eine Futterration erhielt, gemäß einem Brauch, der in den Sieben Gemeinden nach wie vor gepflegt wird. Ein altes Lied erzählt noch heute die Geschichte von »unsar libe Got«, unserem lieben Gott, der auf die Erde gekommen war, »zo stenan hortan hia«, um für immer bei uns zu bleiben.
Dieses reiche Brauchtum ist zum Großteil verschwunden, wie auch die Verwendung der zimbrischen Sprache mit den umwälzenden Veränderungen unserer Zeit stetig zurückgeht. Um die Erinnerungen wieder aufzufrischen und die Beziehung zu einer so speziellen Tradition zu retten, wurde in Roana das Zimbrische Kulturinstitut gegründet, das nach dem ersten Geschichtspfleger der Sieben Gemeinden, Agostino Dal Pozzo, benannt ist. In Verbindung mit den Zimbern der Veroneser und Trentiner Berge und in Zusammenarbeit mit italienischen und ausländischen Experten, vor allem Deutschen und Österreichern, ist man bemüht, diese wertvolle Komponente der Geschichte und Kultur zu erfassen und bekannt zu machen. Dieses Gut hat in den Bergen zwischen der Etsch und der Brenta überlebt, die durch die Jahrhunderte hindurch nicht Venetien vom Norden getrennt haben, sondern vielmehr eine Brücke, ein Ort der Begegnung und der Kommunikation zwischen der italienischen und deutschen Kultur waren. Insbesondere wurden ein Vokabular der zimbrischen Sprache veröffentlicht, ein Sprachkurs abgehalten, zimbrische Märchen gesammelt. Es erfolgten Studien zu Ortsnamen, zur Geschichte und Folklore, es wurden zimbrische Gesänge gesammelt und zwei Audiokassetten und eine CD mit Liedern herausgegeben. In den Schulen wurden auf verschiedener Ebene Lehrvorhaben zur zimbrischen Kultur und Sprache durchgeführt und auch erfolgreich Fortbildungstreffen für Lehrer veranstaltet. In der Liturgie sind die Messfeiern mit Gesängen und Gebeten in zimbrischer Sprache sehr beliebt. In den Sieben Gemeinden und in verschiedenen anderen Regionen finden Treffen und Tagungen zur zimbrischen Kultur und Sprache statt. Ein wirksames Mittel der Information und Kommunikation ist die Internet Homepage, die mit den Webseiten der verschiedenen zimbrischen Gemeinschaften vernetzt ist.