"DAS KANALTAL - EIN SONDERFALL" - Beitrag aus 2010
Deutsch? Windisch? Italienisch? Friaulisch? Slowenisch?
„Das Kanaltal, ein Sonderfall“, so lautet der Titel eines Buches, das vor einigen
Jahren vom Kanaltaler Kulturverein Tarvis herausgebracht wurde. Ist dieser Titel
berechtigt, oder geht es lediglich darum, Leser anzuziehen?
Von Luis Thomas Prader
Wer sich mit dem Kanaltal eingehender befasst, kann dem Titel durchaus zustimmen, denn es handelt sich tatsächlich um eine Sondersituation – geografisch, geschichtlich, politisch, sprachlich, kulturell. Und zudem ist nicht zu vergessen, dass dieses Tal, obwohl weit abgelegen, mit Südtirol viele politische Gemeinsamkeiten und Parallelen aufzuweisen hat.
Die geografische Lage
Tarvis (italienisch: Tarvisio) ist der Hauptort des Kanaltales. Auf der Landkarte findet man es am leichtesten am Schnittpunkt der Linie nordöstlich von Weiden/Udine und südwestlich von Villach. Der östliche Punkt des Tales befindet sich bei Thörl/Maglern, der westliche bei Pontafel/Pontebba, das Tal ist etwa 40 Kilometer lang. Zieht sich nun das Tal ostwärts von Pontafel nach Maglern/Thörl Richtung Kärnten oder westwärts von Thörl/Maglern nach Pontafel? Weder noch, denn mitten im Kanaltal, bei Saifnitz (ital.: Camporosso) gibt es eine Wasserscheide. Der Fluss Fella fließt westwärts, rinnt in den Tagliamento und mündet ins Mittelmeer; die Gewässer des Flusses Gailitz fließen in die Drau, diese in die Donau und Letztere mündet schlussendlich im Schwarzen Meer. Ein ähnliche Situation haben wir auch bei Toblach, wo sich die Gewässer von Rienz und Drau scheiden. Das Kanaltal grenzt im Osten und Norden an Kärnten, im Süden an Slowenien, im Westen an Friaul. Kein Wunder, dass man am östlichsten Punkt des Tales von einem Dreiländereck spricht.
Kanaltal: Geografische Lage
Zur Geschichte des Kanaltales
Das Tal bildet einen bequemen Alpenübergang; so nimmt es nicht wunder, dass im Lauf der Zeit viele Völker durch dieses Tal gezogen sind – Kelten, Römer, Illyrer, Awaren, Slawen, Langobarden, Bajuwaren, Franken, Veneter, Türken, Franzosen und wohl noch zahlreiche andere. Zu erwähnen bleiben allemal die Bischöfe von Bamberg. Kaiser Heinrich II. setzte 1007 die Gründung des Bistums Bamberg durch. Um dieses Bistum lebensfähig zu erhalten, stattete er es aus seinen Gütern mit Ländereien aus, auch wenn diese weitab von Bamberg lagen. Eine solche Länderei war das ferne Kanaltal. Über 700 Jahre lang waren die Bamberger Bischöfe die weltlichen Herren über dieses Tal, kirchlich hingegen gehörten die Gebiete südlich der Drau zum Patriarchat von Aquileja.
Das Deutsche Reich hatte hier einen der südlichsten Stützpunkte. Die Bamberger begannen eine lebhafte Missions- und Kolonisationstätigkeit. Die Kanaltaler Dörfer mit ihren vielen schmucken Kirchen sind vorwiegend während der Zeit der Bamberger errichtet worden. So z. B. Leopoldskirchen, Lussnitz und St. Kathrein, Malborghet, Uggowitz, Wolfsbach, Saifnitz, Tarvis, Raibl, Weißenfels. Bamberg hat im Kanaltal tiefe Wurzeln gebildet. So gibt es in Tarvis eine Bamberger Straße, in der der Kanaltaler Kulturverein seinen Sitz hat; und Malborghet führt in seinem Wappen den Bamberger Löwen. Die Bamberger Besitzungen wurden 1759 an Kaiserin Maria Theresia verkauft; seit diesem Jahr ist das Kanaltal Teil von Habsburg und erlebte mit ihm Höhen und Tiefen der Habsburger Geschichte, genau so wie Tirol. Auch Franzosenkriege von 1797, 1809 und 1813 wären nicht zu vergessen. Während 1809 die Tiroler ihren Andreas Hofer hatten, gab es im Kanaltal den Hauptmann Friedrich Hensel, aus Siebenbürgen stammend. Bei den Kämpfen um die Sperre von Malborghet 1809 zeichnete sich Hauptmann Hensel ganz besonders aus. Mit zehn Haubitzen und einer Kanone verteidigte er das Fort mit 300 Mann gegen 150.000 Franzosen. Schließlich fand er im Mann-gegen-Mann-Kampf seinen Tod. Kaiser Ferdinand ließ ihm zu Ehren in Malborghet ein Denkmal errichten.
Eine einschneidende Wende in der Geschichte des Kanaltals kam mit dem Ersten Weltkrieg. Er brachte nicht nur unzähliges Leid über das Tal, sondern das Tal wurde auch von Italien annektiert – wie Südtirol auch. Noch heute werden 24.000 Hektar Waldungen des Kanaltales vom „Fondo edifici di culto“, beim Innenministerium in Rom angesiedelt, verwaltet. Nicht immer waren es nämlich Wälder des Italienischen Staates. Mitten durch Tirol wird die Brennergrenze gezogen, im Kanaltal wird die jahrhundertealte Grenze kurzerhand um 30 Kilometer ostwärts und jenseits der Wasserscheide bis nach Thörl-Maglern verschoben. Der alte Grenzstein an der Brücke bei Pontafel hatte ausgedient.
Was nach 1919 auf das Kanaltal zukam, kennen wir zur Genüge auch aus der Südtiroler Geschichte: italienische Zuwanderung, Assimilation, Verbot von Deutschunterricht und deutscher Muttersprache, Aufzwingen der italienischen Ortsnamengebung, Option und Abwanderung, Zweiter Weltkrieg und dessen bitteres Ende. Doch das Kanaltal kannte keine Katakombenschulen, mittels denen die Grundkenntnisse der Muttersprache hätten gerettet werden können; das Kanaltal kannte nach dem Krieg keine Unterschriftensammlung, mit der die Rückkehr zu Österreich gefordert wurde; das Kanaltal kennt keinen Pariser Vertrag, aber auch keine andere Bestimmungen, die Schutzmaßnahmen zugunsten der annektierten Bevölkerung vorsahen. Eines ist aber sicher: Südtirol konnte sich ein paar tragende Säulen der Autonomie erkämpfen wie Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache, die muttersprachliche Schule, den Proporz in der öffentlichen Verwaltung und eine gewisse Finanzautonomie. Von solchen Dingen kann das Kanaltal nur träumen, obwohl es, wie Südtirol, zum zusammenhängenden Gebiet des europäischen deutschen Sprachraumes gehört.
Grenzverlauf Pontebba/Pontafel – links Pontebba, rechts Pontafel (Zwiebelturm), in der Mitte der Rio Pontebbana
Kanaltaler Besonderheiten
Schnittpunkt dreier Kulturen
Im Kanaltal begegnen sich drei europäische Kulturen – die germanische, die romanische, die slawische. Es laufen dort auch drei Staatsgrenzen zusammen, nämlich jene von Österreich, Italien und Slowenien. Das wirkt sich auch auf die Sprachensituation des Tales aus: Die meisten Menschen verstehen und sprechen sowohl Deutsch als auch Italienisch und Slowenisch; manche kommen auch mit Friaulisch zurecht. Allerdings ist es heute nicht möglich, den jeweiligen Bevölkerungsanteil statistisch zu erheben. Der Grund: Bei der Volkszählung werden die Sprachgruppen nicht erhoben; somit muss man von Schätzungen ausgehen. Bei der Volkszählung von 1910, also unter Österreich, weist die Statistik des Kanaltales folgende Zahlen auf: Deutsche 77 Prozent, Slowenen/Windische 20 Prozent, andere drei Prozent. Bei der ersten Volkszählung unter Italien im Jahr 1921 ist das Bevölkerungsverhältnis bereits ein an deres: Deutsche 50 Prozent, Slowenen/Windische 13 Prozent, Italiener 14 Prozent, Ausländer 20 Prozent, andere drei Prozent. Die Schätzungen von heute besagen 20 Prozent Deutsche einschließlich der Windischen, wobei die Anzahl der neu zugewanderten Slowenen mit zwei Prozent kaum ins Gewicht fällt. Auf der anderen Seite hat die unmittelbare Nähe der drei europäischen Kulturen anscheinend eine ganz besondere Gemeinschaft herausgebildet: Ein Kanaltaler sagt dazu Folgendes: „Wir Kanaltaler haben schon seit dem Mittelalter im Kleinen die Vereinigten Staaten von Europa dargestellt. Seit um 600 die Wenden (Slowenen) eingewandert sind und die ersten Dörfchen gegründet haben, lebten hier immer mehrere Völker friedlich zusammen.“
Die Option
In der ersten Phase galt die Option lediglich für Südtirol. In einer zweiten Phase wurde sie auf das Trentino (Fersental und Lusern), auf die Buchensteiner Ladiner sowie auf das Kanaltal ausgeweitet. Für alle anderen deutschen Sprachinseln gab es die Option nicht. Im Kanaltal hat die Option besonders dramatische Auswirkungen gezeigt. Von den fast 10.000 Bewohnern des Kanaltales gaben 6000 Deutschsprachige und 2000 Windische ihre Stimme für Deutschland ab. Während die Abwanderung in Südtirol etwa bei 30 Prozent lag, lag sie im Kanaltal bei über 70 Prozent. Rund 5700 Kanaltaler siedelten um, die meisten nach Österreich. Die Rückwandererzahl nach dem Zweiten Weltkrieg beläuft sich in Südtirol auf etwa ein Viertel der Abwanderer, im Kanaltal hingegen auf rund 20 Personen, also auf etwa 0,3 Prozent. Die Komponente der deutschsprachigen Bevölkerung hat demnach sehr stark abgenommen. Das wiederum wirkt sich auf die politische Durchschlagskraft dieser Gruppe aus und somit auch auf deren sprachliche und kulturelle Zukunft.
Pontafel oder Pontebba?
Heutzutage ist fast nur mehr das Wort „Pontebba“ gebräuchlich. Noch vor 100 Jahren gab es zwei getrennte Gemeinden, die italienische Gemeinde Pontebba und die deutsche Gemeinde Pontafel. An der einen Seite der Brücke steht immer noch der Grenzstein mit der Aufschrift: „Kaiserthum Oesterreich – Herzogthum Kärnten – IX 3/10 Myriameter von Klagenfurt“ , auf der anderen Seite der Brücke trägt der Grenzstein die Inschrift: „Venedig X Meilen nach Udine – Kärnten XII Meilen nach Klagenfurt“. Pontebba lag im Veneto, Pontafel gehörte zu Kärnten. Pontebba gehörte zur Diözese Udine, Pontafel zur Diözese Gurk-Klagenfurt. Über die zwei Ortschaften schreibt ein Reisender im Jahr 1711 Folgendes: „Der Grentz-Ort ist zwischen dem Venetianischen und dem Kayserlichen Gebiete. Und wird gewißlich selten ein Ort gefunden werden, da man käntlicher und mit mehrerem Unterschied aus einem Land in das andere übergehet, als in dieser Stadt; denn an der einen Seite der allhiesigen Brücke wohnen Italiäner, als Unterthanen der Republik Venedig; an der anderen Seite wohnen Hochdeutsche, so schon Kayserliche Untertanen sind.“
Bei der Annexion des Kanaltales an Italien war Pontafel eine blühende Gemeinde mit 3600 Hektar an Besitzungen von ausgedehnten Waldflächen und den schönsten Almen in den östlichen Karnischen Alpen, während dem Pontebba eine arme Gemeinde war, wenn auch bevölkerungsmäßig weitaus größer als Pontafel. Doch 1924 wurden die beiden Gemeinden durch einen Akt der faschistischen Machthaber fusioniert. Laut dem italienischen Bürgermeister von Pontebba sollte „es äußerst günstig sein, dass zurzeit die große und reiche Kulturgemeinde Pontebba das arme Gemeindchen Pontafel aufnehme“. Seither gibt es die Einheitsgemeinde Pontebba. Wer nach Pontebba kommt, sollte es nicht versäumen, den vom Bamberger Bischof Schenk von Limburg im Jahr 1517 gestifteten Flügelaltar anzuschauen.
Das Kanaltal und Südtirol
Geografisch liegen unsere Landeshauptstadt Bozen und die Stadt Tarvis im Kanaltal ziemlich weit voneinander entfernt. Über Pustertal–Spittal an der Drau–Villach sind es etwa 300 Kilometer, über die Autobahn Bozen–Verona–Udine sind es rund 450 Kilomter. Seit Südtirol und das Kanaltal von Italien 1919 annektiert worden sind, hat das gemeinsame Schicksal die beiden Gebiete irgendwie einander näher gebracht. So manche Kanaltaler sind nach Südtirol gezogen, welches auch immer die Gründe dazu gewesen sein mögen. Zunamen wie Schojer und Gitschthaler zeugen davon; Kanaltaler namens Kravina, Domenig und Preschern waren in Südtirol mehr oder weniger lang in verschiedenen Arbeitsbereichen beschäftigt. Ab Herbst 1943 besetzten deutsche Truppen das Kanaltal. Da wurden Mitglieder des Polizeiregiments Schlanders ins Kanaltal beordert, um dort die Eisenbahnlinie vor Partisanenangriffen zu schützen. Die Grenzen zu Österreich und Slowenien wollte Italien auch nach dem Krieg bewachen und notfalls verteidigen. So verwundert es nicht, dass das Kanaltal, vor allem Tarvis, mit starken Militäreinheiten besetzt war. Zahlreiche Südtiroler haben dort ihre Ausbildung und ihren Militärdienst abgeleistet, vor allem als Alpini. Nach 1945 konnte sich Südtirol sprachlich wieder erholen, es wurde das muttersprachliche Schulwesen eingeführt. Im Kanaltal hingegen konnte Deutsch nur in Sprachkursen unterrichtet werden – sofern überhaupt Lehrer vorhanden waren. Um für den Deutschunterricht im Kanaltal gerüstet zu sein, besuchten Kanaltaler Schülerinnen die Lehrerbildungsanstalt in Südtirol, andere Jugendliche hatten sich in Bozner Oberschulen eingeschrieben, um die deutsche Sprache besser erlernen zu können. Immer, um Deutsch im Alltag besser lernen zu können, brachte man in den Sommermonaten Kanaltaler Kinder zu Ferienaufenthalten nach Südtirol. Bei solchen Ferienwochen waren sie auch mit Nordtiroler Kindern beisammen. Die „Dolomiten“ schrieben 1977: „Im heurigen Sommer verbringen insgesamt 270 Kinder ein paar schöne Erholungswochen in drei verschiedenen Heimen in Südtirol: bei Matsch und in Glurns sowie in Nauders oberhalb Rodeneck. Eine Südtiroler Lehrerin sorgt täglich dafür, dass zumindest in lockerem Unterricht die Schulkenntnisse ein wenig aufgefrischt werden. Betreuerin ist eine Kanaltalerin, die in Bruneck die LBA besucht und dereinst hofft, in ihrer Heimat den Kindern Deutschunterricht erteilen zu dürfen. Die Ferienkinder entstammen meist Familien, in denen noch deutsch gesprochen wird.“ Auch bei Meeraufenthalten der Südtiroler Caritas wurden Kanaltaler Kinder miteinbezogen. Die Kanaltaler haben sich immer wieder voll Vertrauen an Südtiroler gewandt, um in verschiedenen Anliegen, vor allem in Rom, unterstützt zu werden. Die Kanaltaler wussten den Südtiroler Einsatz auch zu danken. So fand die SVP anlässlich der ersten Wahlen zum Europaparlament im Jahr 1979 großen Zuspruch: In Malborghet wurde sie zweitstärkste Partei, in Uggowitz die stärkste Partei überhaupt.
Der Ort Uggowitz ist von den Südtirolern zweimal großzügig unterstützt worden: Das erste Mal nach dem großen Erdbeben 1976, das zweite Mal nach den Wasserfluten im Jahr 2003. 50 Prozent der Häuser waren beim Erdbeben schwer beschädigt worden, darunter auch Schulgebäude, Kirchen und historisch wertvolle Bauten. Bereits einen Monat nach dem Beben wurde der Grundstein für ein neues Schulhaus gelegt, zwei Jahre später war es bezugsfertig. Die Presse nannte diesen Volksschulbau „ein Denkmal Tirols im Kanaltal“, denn das Bundesland Tirol hatte den Wiederaufbau großzügig unterstützt, und auch Südtirol hatte sich mit 50 Millionen Lire an Spenden beteiligt. An der bronzenen Erinnerungstafel am Schulhaus wird von „einer spontanen Aktion der Bevölkerung von Tirol“ gesprochen. Und 30 Jahre später kam das große Wasser.
In Uggowitz wurde die Kirche arg beschädigt. Der Pfarrturm wurde weggeschwemmt, die Sakristei sowie jegliche Kircheneinrichtung wurden völlig zerstört. Aus Südtirol wurde für die Wiederherstellung von Verlorengegangenem großzügige Hilfe geleistet. Aufgrund einer Direktinitiative seitens des Landespräsidiums der Südtiroler Landesregierung und des Vizepräsidenten der Region Trentino-Südtirol, Dr. Luis Durnwalder, wurde die Hilfsmaßnahme mit dem Südtiroler Landesverband der Handwerker vereinbart. Für die Durchführung wurde das Regionalamt für Sprachminderheiten beauftragt. In enger Zusammenarbeit mit den Berufsgemeinschaften der Tischler und der Berufsbildhauer im Südtiroler Landesverband der Handwerker, mit der Pfarrgemeinschaft und einzelnen Vereinen in Uggowitz und den Beauftragten für die Bauaufsicht wurde die Planung der Wiederherstellung der Inneneinrichtung der Kirche in Angriff genommen und an Ort und Stelle abgesprochen. Innerhalb kurzer Zeit konnten sämtliche Einrichtungsgegenstände wiederhergestellt werden, so der Altar, der Beichtstuhl, das Lesepult und die Kirchenbänke. Mit dem gemeinsamen Projekt sollte auch ein konkretes Zeichen der Zusammengehörigkeit und der Solidarität zwischen den verschiedenen Minderheiten gesetzt werden. Nahezu 130.000 Euro wurden dafür ausgegeben. Wer heute nach Uggowitz kommt, sollte es nicht verabsäumen, die Leistung der Südtiroler in der dortigen Kirche zu bewundern, vor allem die einmaligen Grödner Handschnitzarbeiten.
Pfarrer Dr. Alois Rizzardi
Als ein „tiefgläubiger Südtiroler Priester“ wird Rizzardi im Buch „Das Kanaltal und seine Geschichte“ beschrieben. Woher aus Südtirol stammte Rizzardi? Warum kam er ins Kanaltal? Wer war dieser Rizzardi überhaupt?
Fragen über Fragen, einige können beantwortet werden, andere führen in ein geheimnisvolles Dunkel. Am 24. September 1898 wurde in Lana ein Kind einer Taglöhnerfamilie geboren und am selben Tag auf den Namen Alois Georg Ballweber getauft. Die Eltern waren Georg Ballweber und Anna Frei, verwitwete Rizzardi. Die Familie wohnte in Oberlana im Kürschnerhaus Nr. 52. So viel kann man den Unterlagen des Landesarchivs entnehmen. Daraus entnehmen kann man auch den Namen „Rizzardi“, nicht mehr in der Deutschen Kurrentschrift verfasst wie das Original und ohne Datumseintrag. Im Stift Stams scheint mit Datum vom 11. Oktober 1919 ein Aloisius Ballweber ex Lana (Südtirol) mit der Bezeichnung Fr. Amadeus auf. Weiters gibt es dort Anmerkungen über das Ablegen der Gelübde und über die Primiz am 20. April 1924 in Stams. Die ersten zwei Priesterjahre leistete Ballweber (Rizzardi) in Mais, dann folgte ein Studium in Rom und daraufhin die Rückkehr nach Mais. Ohne nähere Datumsangaben steht dann vermerkt: „Aus dem Orden ausgetreten. Säkularisiert. †1946 in St. Johann im Walde, Osttirol“. Seit wann nennt sich Aloisius Ballweber aber Rizzardi? Während der Zeit des Faschismus war ein Namenwechsel von der deutschen Form in eine italienische nichts Ungewöhnliches; für Ballweber vielleicht auch eine Notwendigkeit, um in Rom seine Studien aufnehmen zu können. Alois Ballweber wählte den Witwenname seiner Mutter und hieß ab nun Alois. Aber warum hat sich Rizzardi säkularisieren lassen? Wohin ist er gegangen, nachdem er von Mais weggezogen war? Es folgt eine von mir unerforschte Zeitspanne im Leben des Priesters. Im Jahr 1932, mitten in der Zeit des Faschismus, taucht er im Kanaltal auf. Über sein Leben und Wirken berichten noch einzelne Zeitzeugen. Karl Migglautsch, ein Ministrant bei Rizzardi, hat den Satz vom tiefgläubigen Südtiroler Priester geprägt. Weiters sagt er: „Dr. Rizzardi war ein hochintelligenter Südtiroler Pfarrer, der unser Leid verstand. Als Deutscher bekannte er sich zu seinem Volkstum und entschied sich 1939 mit seinen Pfarrkindern zur Auswanderung.“ Frau Antonia Gitschthaler, die in Meran lebt, berichtet, dass der zuständige Bischof nach hartnäckigem Bitten den Kanaltalern einen deutschsprachigen Priester genehmigt habe, aber unter der Bedingung, dass für die Unterhaltskosten die Kanaltaler selbst aufkommen sollten. Diese haben das auch getan und den Pfarrer vor allem mit Naturalien versorgt. Sowohl Migglautsch als auch Gitschthaler berichten, dass Rizzardi sein Privatvermögen in seiner Pfarre investiert hat. Allerdings könnten bei der Diözese Görz auch politische Hintergründe die Einsetzung eines deutschen Pfarrers mit beeinflusst haben. Berichtet wird auch, dass Rizzardi nach der Option in der neuen Heimat an einer schweren Krankheit starb. Rizzardi liegt in St. Johann im Walde, einer kleinen Ortschaft nordwestlich von Lienz, begraben. Das Priestergrab ist heute noch liebevoll gepflegt, die Gemeinde St. Johann im Walde übernimmt die entsprechenden Unkosten.
Sprachgebrauch in der öffentlichen Verwaltung
In Südtirol können wir auch in der öffentlichen Verwaltung und vor Gericht unsere Muttersprache verwenden. Zumindest auf rechtlicher Ebene sind wir abgesichert. Eine solche Absicherung gibt es im Kanaltal nicht. Grundsätzlich wird dort nur die italienische Sprache verwendet: auf dem Gemeindeamt, bei der Forstbehörde, beim Gottesdienst, bei der Ortsbeschilderung und Straßenbenennung, bei der Sanitätseinheit, an der amtlichen Anschlagtafel, bei den öffentlichen Verkehrsmitteln und sonst wo immer öffentliche Institutionen mit eingebunden sind. Zwar sind bei der Gemeinde in Pontebba und in jener von Tarvis Dienststellen für Deutsch laut dem Staatsgesetz 482/99 eingerichtet. Diese Dienststellen sind zwar ein Behelf, aber Zweisprachigkeit wie in Südtirol gibt es nicht. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass sich in letzter Zeit etwas tut. Hie und da gibt es ein paar Hinweisschilder, die auf die besondere Sprachsituation des Tales eingehen. Man findet „Benvenuti-Willkommen-Dobrodosli-Benvegnuts“ oder auch „Municipio-Rathaus-Zupanstvo-Municipi“. Eine Mehrsprachigkeit wird allmählich ersichtlich. Und auch zwei deutschsprachige Gottesdienste im Jahr gibt es – die Weihnachtsmesse am Stephanstag sowie die Hl.-Haupt-Andacht am Palmsonntag. An beiden Tagen geht es auch um ein bedeutendes Zusammentreffen der Kanaltaler Gemeinschaft aus nah und fern. Die beiden liturgischen Feiern gehen auf eine Initiative des Kanaltaler Kulturvereines zurück. Inzwischen liegt ein Gesetzentwurf zur Aufwertung des Deutschen in der öffentlichen Verwaltung vor, aber noch fehlt die Umwandlung in ein konkretes Gesetz.
Die Schule
Unter Österreich hatte das Kanaltal von jeher deutsche Schulen, so wie Südtirol auch, aber nach der Annexion kam alles anders. Im Jahr 1940 wurden, so wie in Südtirol auch, für die Optantenkinder deutsche Sprachkurse eingerichtet. Während in Südtirol ab Herbst 1945 die deutsche Schule wieder errichtet wurde, musste sich das Kanaltal bis Anfang der siebziger Jahre mit den deutschen Sprachkursen begnügen. Im Lauf der weiteren Jahre wurden Unterrichtsstunden in Deutsch zuerst als Schulversuch, später dann als Lehrfach eingeführt, aber immer nur für einige Wochenstunden. Zwar wird Deutsch unterrichtet, aber einzig als Fach, wird aber grundsätzlich nicht als Unterrichtssprache verwendet. Ein weiteres Problem stellt der Unterricht der Fremdsprache Englisch dar, denn die neuesten Entwicklungen gehen dahin, Deutsch – die Sprache des unmittelbaren Nachbarn und die in der EU von den meisten Bürgern gesprochene – zurückzudrängen und Englisch aufzuwerten. Zwar haben die Kanaltaler Kinder das Glück, von Lehrpersonen deutscher Muttersprache unterrichtet zu werden, aber das Ausmaß des Deutschunterrichtes ist eben beschränkt. Partnerschaften mit benachbarten Kärntner Schulen helfen zwar, die deutsche Sprache zu fördern, aber insgesamt ist das Kanaltaler Schulwesen von Schulen in deutscher Muttersprache meilenweit entfernt. Auf der anderen Seite darf aber auch nicht vergessen werden, dass im Tal auch Slowenisch und Friaulisch gelehrt werden. Zwar sprechen manche Talbewohner von einer Viersprachigkeit, aber wie tief diese Viersprachigkeit wirklich verwurzelt ist, wäre eine wissenschaftliche Untersuchung wert.
Der Kanaltaler Kulturverein (KKV)
Dieser wurde im März 1979 aus der Taufe gehoben. Bei der Erstellung der Satzungen hatte auch der Südtiroler Norbert Mumelter mitgewirkt. Laut der Gründungssatzung ist es Zweck des KKV, „Vorhaben von sozialem, kulturellem, erzieherischem und unterrichtendem Charakter vorzuschlagen und durchzuführen mit dem Ziel, die Kultur und die überlieferten Werte des Kanaltales aufzuwerten, zu entwickeln und zu verbreiten“. Weiters heißt es in den Satzungen: „Dem Verein können die alteingesessenen Bewohner des Kanaltales und ihre Angehörigen beitreten sowie Freunde, die zur Erreichnung der Vereinszwecke mitarbeiten wollen.“ Da fällt auf, dass es sich nicht ausschließlich um einen Verein deutschsprachiger Kanaltaler handelt, sondern dass auch Slowenen, Friauler und Italiener im Verein mitwirken können. Im Lauf seiner nun dreißigjährigen Tätigkeit war der KKV sehr aktiv und ist es weiterhin. Vor allem Brauchtum, Kultur und Sprache standen und stehen im Mittelpunkt der Vereinstätigkeit. Angefangen hat man damals mit dem „1. Kanaltaler Weihnachtssingen“, an dem mehrere Chorgemeinschaften teilnahmen. Die Pressestimmen waren voll des Lobes über dieses Singen von „Liedern in fünf Sprachen“ . Die „Dolomiten“ schrieben dazu, dass die Einnahmen aus dem Konzert an das Kinderhilfswerk Unicef ergangen sind, obwohl der Kulturverein „nicht mit Gütern gesegnet ist“. Kirchliches Brauchtum ließ man wieder aufleben, Deutschunterricht wurde in Abendkursen an Erwachsene angeboten, man begann die Kanaltaler Tracht hervorzuholen. Der Trachtenpflege wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sobald die Kanaltaler einen festlichen Anlass zu feiern haben, wird die Tracht getragen. 1984 wurde der Kanaltaler Kulturverein beim Tirolerball in Meran für das Tragen mustergültiger und vorbildlicher Tracht ausgezeichnet. Inzwischen gibt es auch in Kärnten einen Kanaltaler Kulturverein. Die Kontakte zwischen den beiden Vereinen diesseits und jenseits der Grenze sind sehr freundschaftlich. Der KKV unternahm auch zahlreiche Kulturfahrten, so nach Bamberg, nach Österreich, nach Südtirol. Der Kanaltaler Kulturverein hat immer auch großen Wert auf die Kontaktpflege mit anderen Verbänden und Organisationen außerhalb des Tales gelegt. So nimmt es nicht wunder, wenn die Kanaltaler nicht nur zu Österreich und Deutschland, sondern auch zu Südtirol gute Kontakte pflegten. Erst vor nicht allzu langer Zeit veranstaltete der Kulturverein zusammen mit dem Bozen Brass Quintett ein viel beachtetes Weihnachtskonzert. In den letzten Jahren sind viele neue Initiativen des Vereins dazugekommen wie der Kanaltaler Frühlingsball, die Veranstaltung „Weihnachten, wie es einmal war“, ein Chorabend bei Kerzenlicht in der Tarviser Stadtpfarrkirche am 1. Adventsonntag sowie das 1. Nachrichtenmagazin in deutscher Sprache auf dem regionalen Fernsehsender „Telefriuli“. Im vergangenen Jahr feierte der KKV sein dreißigjähriges Bestehen. Aus zahlreichen Landen kamen Abordnungen zu den zweitägigen Feierlichkeiten, natürlich auch aus Südtirol, darunter die Musikkapelle Montan.
Maria Luschari
Luschari auf Deutsch, Lussari auf Italienisch, Visarje in Slowenisch, in jeder Sprachform ist ein und derselbe Wallfahrtsort gemeint: Maria Luschari, ein einmaliger Kreuzungspunkt von drei großen Völkerfamilien – den Germanen, den Romanen, den Slawen. Aus dem 14. Jahrhundert soll die ursprüngliche Kapelle stammen. Kaiser Joseph II. ließ das Heiligtum sperren, es wurde bald wieder geöffnet, vor 200 Jahren wurde die Kirche von einem Blitz getroffen und brannte vollkommen nieder, im Ersten Weltkrieg wurde die Kirche total zerbombt, während des Zweiten Weltkrieges blieb das Heiligtum geschlossen, seit den letzten 50 Jahren wird neu aufgebaut und erweitert, in den Sommermonaten ist der Berg von Wallfahrern bevölkert, im Winter führt eine Seilbahn auf den Luschariberg, und das Pistenende liegt tief unten im Tal in Saifnitz. Maria Luschari wird als europäischer Wallfahrtsort angesehen. Diese europäische Bedeutung wird sowohl in einem Gebet als auch in einem Gedicht ausgedrückt. Im Gebet heißt es: „Gottesmutter von Luschari, die du schon seit sechshundert Jahren hier auf diesem Orte thronest, wo drei europäische Völker einander begegnen – Romanen, Slawen und Germanen –, bewahre uns den Frieden.“ Und in einem Gedicht von Ida Grilz heißt es:
Du hörst deutsches Gred,
welsches grad so gern,
und wer windisch bet’,
den tuast ah erhörn.
Das Kanaltal nicht vergessen
Südtirol und das Kanaltal sind von jeher deutschsprachige Gebiete, sei es unter Bamberg, sei es unter Österreich. Über beide bricht mit Wucht der Erste Weltkrieg herein, beide Gebiete werden von Italien annektiert, beide müssen die faschistische Assimilation und Unterdrückung erleiden, über beide wird die unselige Option verhängt, beide stehen nach dem Zweiten Weltkrieg vor einem Trümmerhaufen. In Südtirol werden die muttersprachlich deutschen Schulen errichtet, für Südtirol wird der Pariser Vertrag ausgehandelt, Österreich wird Schutzmacht, Südtirol kann sich kulturell, und später auch wirtschaftlich, wieder erholen.
Und das Kanaltal? Ingomar Pust schreibt 1995 im Buch „Das Kanaltal und seine Geschichte“: „Von Wien bis zum heutigen Tag verlassen, haben sich die Kanaltaler schweigend in ihr Schicksal ergeben. In Österreich war wohl die Rede von Südtirol. Vom stillen armen Kanaltal wurde nicht gesprochen und gesungen. Von Wien und Österreich vergessen, versank das Kanaltal in die Vergessenheit, die es heute noch immer umgibt.“
Die teilweise gemeinsame Geschichte könnte uns Südtiroler dazu bewegen, das Kanaltal und sein Schicksal eingehender kennen zu lernen und es nicht zu vergessen. Das Kanaltal ist tatsächlich ein „Sonderfall“ – geografisch, geschichtlich, politisch, sprachlich, kulturell.
Wallfahrtsort Luschariberg