ALLGEMEINE EINFÜHRUNG
Die deutschen Sprachinseln in Italien heute
von Luis Thomas Prader
Vor 50 Jahren hat Dr. Bernhard Wurzer im Reimmichlkalender das erste Mal über kleine deutsche Sprachgemeinschaften im oberitalienischen Raum geschrieben. Der Beitrag trug den Titel „Die deutschen Sprachinseln im Trentino und in Oberitalien“. Wurzer hat sich in erster Linie mit den Fersentalern und mit Lusérn befasst, also mit den beiden Sprachinseln in Welschtirol. Aber auch über zahlreiche andere kleine Gemeinschaften wurde berichtet. Es war das erste Mal, dass uns ein Südtiroler diese Inseln vorstellte, von denen wir vorher bestenfalls nur vom Hörensagen gewusst hatten. Etwa zehn Jahre später erschien vom selben Autor im Athesia-Verlag das Buch „Die deutschen Sprachinseln in Oberitalien“ und es erfuhr sogar mehrere Neuauflagen. Wurzers Buch ist als Standardwerk anzusehen und wird es auch weiterhin bleiben, denn das Werk enthält grundlegende Aussagen zur Kulturpolitik der Sprachinseln, zu möglichen Beziehungsebenen von Südtirol und dem deutschsprachigen Ausland zu diesen historischen Gemeinschaften, die in einem ihnen sprachlich fremden Umfeld tagtäglich ums kulturelle Überleben kämpfen müssen. Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich viel getan auf der Welt, auch bei den Sprachinseln. Daher scheint es angebracht zu sein, einmal nachzuschauen welche Veränderungen und welche Entwicklung auf diese winzigen Gemeinschaften zugekommen sind, zu erfahren, wie es mit den Deutschen Sprachinseln in Italien heute steht. Gleichzeitig soll in diesem Beitrag in großen Zügen die gesamte Problematik noch einmal dargestellt werden, es soll auf erfreuliche Entwicklungen hingewiesen werden, aber es soll auch nicht Schwieriges und Widersprüchliches verheimlicht werden.
Einführung
Trotz Wurzer und trotz reichhaltiger Fachliteratur und trotz zahlreicher Informationsmöglichkeiten über die Sprachinseln, heute auch im Weltnetz, stelle ich immer wieder fest, dass in Südtirol das Wissen über die deutschen Sprachinseln relativ bescheiden ausfällt; das verwundert um so mehr, als die Südtiroler als Minderheit über andere Minderheiten doch mehr informiert sein sollten als solche Menschen, für die das Minderheit-Sein kein Thema ist. Ein Wissen über die deutschen Sprachinseln in Italien scheint mir aus zweierlei Gründen gerechtfertigt zu sein:
• aus kulturellen Gründen, denn es handelt sich um Gemeinschaften desselben kulturellen Ursprungs,
• aus Solidarität einer relativ starken Minderheit mit den allerkleinsten Minderheiten italienweit, wenn nicht gar europaweit.
Wurzer hatte schon damals geschrieben: „Das Schicksal dieser Gebiete verdient die besondere Aufmerksamkeit der Südtiroler“, und führt als Begründung kulturpolitische Argumente ins Feld.
Zur Siedlungsgeschichte
Es drängt sich die Frage auf, woher diese „Deutschen“ kommen, wie es zum „Inseldasein“ gekommen ist, worin es mit Südtirol Gemeinsamkeiten gibt und worin wesentliche Unterschiede zu uns bestehen. Die Sprachinseln haben keine einheitliche Siedlungsgeschichte. Jede Sprachinsel ist sozusagen für sich allein zu betrachten, jede hat ihre ganz persönliche Siedlungsgeschichte. Die eine Gemeinschaft ist schon vor 1000 n. Ch. erwähnt, andere wieder werden erst einige hundert Jahre später urkundlich erstmals erwähnt.
So etwa ist die Siedlungsgeschichte der Walser mit dem Alemannischen bzw. mit der Schweiz eng verbunden. Über die Herkunft der Zimbern hat es die abenteuerlichsten Hypothesen gegeben, heute scheint es einigermaßen geklärt zu sein, dass die Zimbern in den 13 Gemeinden, in Lusérn, in den Sieben Gemeinden und im Cansiglio aus dem bairischen Sprachraum eingewandert sind. Die Einwanderung aus Tirol und Kärnten in die karnischen Gebiete von Tischlbong, Zahre und Plodn erfolgte zu einem ganz anderen Zeitpunkt. Lusérn und das Fersental gehörten zu Welschtirol; das erklärt auch, warum sich dort die Sprache leichter halten konnte als anderswo. Das Kanaltal schließlich ist erst nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Minderheit geworden, und zwar durch die Grenzverschiebung von Pontafel über die Wasserscheide hinaus rund 30 km nach Osten bis hinter Tarvis. Aus dem Gesagten versteht man nun, warum es im Grunde kein einheitliches Sprachinseldeutsch gibt und geben kann: Das Sprachinseldeutsch der Karnier ist ein ganz anderes als etwa jenes der Walser. Bestenfalls könnte man sich diesbezüglich auf drei große Sprachfamilien einigen, aber auch diese Lösung ist nicht voll zufrieden stellend. So gibt es halt so viele verschiedene Sprachformen, wie es Sprachinseln gibt. Ganz bewusst soll darauf Wert gelegt werden, dass es sich beim Sprachinseldeutsch um Sprachformen handelt und nicht um lokale Dialekte.
Im hintersten Fersental – Streusiedlung Palai
Lage und kulturelles Leben
Die territoriale Ausdehnung der deutschen Gebiete war ursprünglich sehr viel größer als heute. Vieles hat zur ständigen Schrumpfung dieser Gebiete beigetragen, unter anderem Unterdrückung, Assimilierung, Armut, Abwanderung. Übrig geblieben sind kleine „Inseln“, denen es gelungen ist in kulturell fremdem Umfeld zu überleben, ihre Sprache, ihre Kultur und teilweise auch ihr Brauchtum über Jahrhunderte herauf zu bewahren. Das ist in erster Linie auf die abgeschiedene Lage der einzelnen Inseln zurückzuführen. Sie alle liegen irgendwo oben auf einer einsamen Hochebene, irgendwo an einem Berghang, irgendwo in einer engen Schlucht. Die Gegend ist und war unwirtlich, wirtschaftlich uninteressant für Menschen, die die großen Verkehrswege benutzen und in der Ebene oder im Flachland ihren Lebensunterhalt bestreiten können. So wurden in der Abgeschiedenheit weiterhin die althergebrachten Sprachformen verwendet und mündlich weitergegeben, Sprachformen, die sich auf das Familien- und Dorfleben sowie auf die Arbeit beschränkten. Die Sprache wurde kaum oder zumindest wenig beeinflusst und somit auch nicht geändert. Geblieben ist ein altes Deutsch, ein „archaisches“ Deutsch, wie man manchmal auch sagt. Und gerade hier setzen Wissenschafter, Sprachforscher und Kulturinteressierte an, und besonders im Erhalt und in der Pflege dieser archaischen Sprachformen liegt der Einsatz vieler Menschen und Freunde der Sprachinseln.
Fersental – Baugeschichte der neuen Kirche in Florutz-Vlarötz
Der Wallfahrtsort Maria Luschari im Kanaltal
Die Stellung des Sprachinseldeutsch im Laufe der Geschichte
Im Laufe der Geschichte bestand kein besonderes Interesse für diese Sprachformen, für viele Menschen waren sie auch zu unbedeutend. Es gab aber auch löbliche Ausnahmen. Im Zuge der Aufwertung der Muttersprache im kirchlichen Leben hat zum Beispiel der Bischof von Padua für die Sieben Gemeinden eine Katechismusübersetzung ins „Zimbrische“ angeordnet, denn die dortigen Bewohner deutscher Sprache (lingua Thedesca) sollten nicht „um das Erlernen der wahren Leitsätze der christlichen Glaubenslehre betrogen werden. Diese „Christlike unt korze doctrina“ stammt aus dem Jahre 1602 und wird als das „ältestüberlieferte Sprachdenkmal des so genannten Zimbrischen“ angesehen. Auch bei den Walsern finden wir eine große Bedeutung der Sprache im kirchlichen Leben. Die Ereignisse und Entscheidungen des Konzils von Trient waren sicherlich nicht dazu angetan, die Muttersprache weiterhin zu fördern. Die Sprache der Kirche sollte forthin das Latein sein und bleiben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellen wir das Erwachen von nationalstaatlichem Gedankengut fest. Mit dieser Phase beginnt auch der Einigungsprozess Italiens und mit einher geht der Gedanke von „ein Staat, ein Volk, eine Sprache“. Somit hatte die Minderheitensprache keinen Wert in der Mehrheitsgesellschaft, keine Würde, keine Daseinsberechtigung. Den Höhepunkt der sprachlichen Ausgrenzung erleben wir sicherlich während der Zwanziger- und Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Wir kennen diese Zeit zur Genüge aus Südtiroler Erfahrung. Wir in Südtirol konnten aufgrund eines massiven Widerstandes unsere Sprache einigermaßen herüberretten bis in die Nachkriegszeit. Aber für die Sprachinseln war diese Zeit geradezu katastrophal, denn es war ein Leichtes, eine schon geschwächte oder gar „unwürdige“ Sprache zu unterdrücken und, warum auch nicht, endgültig zu beseitigen. Bezüglich der sprachlichen Unterdrückung in Schule und Kirche erzählen Zeitzeugen heute noch Schauergeschichten.
Die Nachkriegszeit und die Sprachinseln
In der Nachkriegszeit hatten die Menschen andere Bedürfnisse als kulturelle und schon gar kein Interesse für die Sprachinseln, weder in Südtirol noch bei den Sprachinseln selbst. Der Untergang war wohl vorprogrammiert, zumindest das Vergessensein. Und da tritt plötzlich Wurzer mit seiner Schrift auf den Plan und hat versucht, die Sprachinselproblematik in Südtirol bekannt zu machen. Aber so richtig scheint diese in die breite Südtiroler Bevölkerung doch nicht eingedrungen zu sein. So erklären sich auch die häufig gestellten Fragen, ob es noch deutsche Sprachinseln gäbe, und vor allem, wo sie gegebenenfalls anzutreffen sind. Bestenfalls hört man vage Nennungen von Fersental und Lusérn, dann ist es meistens eh schon getan. Begriffe wie Zahre oder Tischlbong klingen wie Namen aus einer fremden Welt, dass zwischen den Walsern im Westen und dem Kanaltal im Osten eine Entfernung von nicht weniger als 800 km besteht, wird gar nicht erst in Betracht gezogen. Im Buch „Die deutschen Sprachinseln in Oberitalien“ (B.Wurzer) wird die Sorge um den Untergang dieser Sprachinseln ausgesprochen und der Autor ruft dazu auf, die Sprachinseln nicht zu vergessen, mit ihnen solidarisch zu sein und sie im Bemühen um die Erhaltung der Kultur und Sprache zu unterstützen, bevor es zu spät ist. Im Zuge einer positiven europäischen Haltung zu den Minderheiten zu Beginn der Achtzigerjahre finden bei Tagungen erste Begegnungen zwischen den vielen Minderheiten statt. In Gesprächen mit den Menschen aus den Sprachinseln war Resignation herauszuhören, etwa nach dem Spruch „Es ist eh schon alles zu spät und vorbei“, denn das bisschen Arbeit vor Ort sei halt zu wenig und werde auch nicht gebührend anerkannt.
Also: Untergang?
Eine neue kulturpolitische Entwicklung setzt ein
In Europa besinnt man sich der kleinen Volksgruppen. Es wird das EBLUL(European Bureau for Lesser Used Languages) aus der Taufe gehoben, gedacht als eine gesamteuropäische Organisation, die sich um die weniger verbreiteten Sprachen kümmern sollte. EU-Politiker brachten immer häufiger Minderheitenproblematik aufs Tapet. In Italien wird das Minderheitenkomitee CONFEMILI gegründet. Im italienischen Parlament wird ein Gesetzentwurf zur Durchführung des Art. 6 der Verfassung eingereicht, der ja bekanntlich von Sondermaßnahmen zum Schutze von Minderheiten spricht. Es sind das die Anfänge, die schließlich zur Verabschiedung des italienischen Minderheitenschutzgesetzes 482 aus dem Jahre 1999 geführt haben. Mit diesem Gesetz sind nicht nur Schutzmaßnahmen für die 600.000 Friauler, die 100.000 Albaner, die 80.000 Okzitanen, und wer sonst noch alles von den zwölf offiziell geschützten Minderheiten dazukommt, vorgesehen, sondern auch die kleinen deutschen Sprachinseln finden unter dem Begriff „germanici“ Erwähnung. Dazu kommen dann noch europäische Grundsatzdokumente wie die Sprachencharta und die Rahmenkonvention zum Schutze der Minderheiten in Europa. Insgesamt also günstige Rahmenbedingungen für den Schutz von Minderheiten. Etwa gleichzeitig beginnt bei den Sprachinseln eine neue Aktivität. Es werden kulturelle Vereinigungen und Organisationen gegründet, man schreitet an die Herausgabe von ersten Publikationen in der jeweiligen Minderheitensprache, vom Ausland her ist steigendes Interesse an der Besonderheit der Sprachinselkulturen zu verzeichnen. In diese Zeit fällt die Gründung von Museen, von Chören, von Brauchtumsgruppen, in diese Zeit fällt das Kontakteknüpfen zu Institutionen und Personen im deutschsprachigen Ausland, kurzum, es gibt erste Anzeichen von einer Neubesinnung auf die sprachliche und kulturelle Vergangenheit. Aber die ganze Tätigkeit scheint trotzdem eher im Verborgenen abzulaufen und nur innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft, außerhalb der jeweiligen Gemeinschaft ist kaum etwas zu bemerken. Aber es ist eine Vitalität sondergleichen feststellbar, von der man in den Jahrzehnten vorher nur träumen konnte.
Das europäische Jahr der Sprachen 2001 – Ein Wendepunkt?
Die neue kulturpolitische Entwicklung zog auch eine Reihe von Begegnungen und Tagungen nach sich, auf lokaler wie auf europäischer Ebene. Auch das Südtiroler Volksgruppeninstitut hat dabei eifrig mitgewirkt. Das europäische Jahr der Sprachen schließlich war für die Sprachinseln Anlass genug, innerhalb der eigenen Gemeinschaften über Gegenwart und Zukunft der Sprachinselkultur nachzudenken. Im Mai 2001 fand in Neumarkt auf Einladung von Confemili und dem SKI eine erste Begegnung von Sprachinselvertretern statt. Sie waren wohl alle gekommen, die Walser, die Zimbern, die Menschen aus Karnien, aus dem Kanaltal und aus dem Fersental. Das Tagungsergebnis fasste Gianni Molinari von den Zimbern aus den 13 Gemeinden folgendermaßen zusammen: „wenn wir schon sterben müssen, dann lieber später als früher; also an die Arbeit für einen Neustart! Tzimbar lentak!“. (Das Zimbrische lebt)
Das „Einheitskomitee der historischen deutschen Sprachinseln in Italien“
Ein Jahr danach trifft man sich in Lusérn, um eine Arbeitsgemeinschaft der Sprachinseln zu gründen. Dieses Sprachinselkomitee hat es sich statutarisch zur Aufgabe gestellt, „die Sprache und Kultur der deutschen historischen Gemeinschaften zu schützen und zu fördern … in Zusammenarbeit mit anderen Körperschaften, Vereinigungen und Personen in Italien und in Europa“ (Art. 3). Elf Sprachinseln sind Unterzeichner bei der Gründungsversammlung. Inzwischen hat sich das Komitee vergrößert, denn es ist „der Rat der Walser“ aus Aosta dazugekommen, die Walsergemeinschaft Remmallju aus Piemont und der Sprachinselverein in Wien. Einige Provinzen und Regionen haben mit formellem Beschluss das Komitee anerkannt und seit Jänner 2006 ist das Komitee auch ständiges Mitglied einer beratenden Arbeitsgruppe für Minderheitenfragen beim Regionenministerium in Rom.
Die Sprachinseln leben!
Vorbei scheint die Zeit der Resignation zu sein, die Zeit des Sich-selbst-Bemitleidens, das Gefühl minderwertig zu sein, weil man zu einer anderen Kultur gehört, als von vielen erwartet. Es könnte an unendlich vielen Beispielen gezeigt werden, wie lebendig die Sprachinseln heute wieder sind. Es gibt eine unendliche Fülle von wissenschaftlichen und heimatkundlichen Publikationen, Berichte über Brauchtum, Sprache, Kultur, Architektur, Publikationen von Wissenschaftern aus dem deutschsprachigen Ausland verfasst, aber immer mehr auch Publikationen, die vor Ort erstellt worden sind. Dabei stehen vor allem die archaischen Sprachformen im Mittelpunkt. Welche Fülle an Publikationen herum ist, ist wirklich erstaunlich; der Zugang zu diesen Quellen ist gar nicht schwierig, man muss nur an sie herankommen wollen. Aber auch im Weltnetz ist man vertreten, denn schlussendlich steht dahinter die Absicht, sich weitmöglichst bekannt zu machen. Es genügt, Stichwörter aus den Sprachinseln in die Suchmaschine einzugeben. Um sich bekannt zu machen, hat das Komitee das große Buch „Lebendige Sprachinseln“ (Isole di cultura) herausgebracht. Es ist das ein Buch, das von den Leuten aus den Sprachinseln selbst geschrieben worden ist; sie selbst berichten über ihre Geschichte, über ihre Sprache, über ihre Schwierigkeiten, in einem kulturell fremden Umfeld überleben zu müssen. Dass die Menschen ohne jegliche Honorarforderung gearbeitet haben, gereicht ihnen allen sehr zu Ehren. Bezeichnend ist der Außenumschlag: Im Bild wird zwar auf die Vergangenheit hingewiesen, aber es soll auch gezeigt werden, wie mühsam das Aufwärtsgehen ist, ein Neustart nach jahrelangem Vergessensein.
Der Autor dieses Beitrages, Luis Thomas Prader, ist Sekretär des Sprachinselkomitees, Vizepräsident
des Büros für Minderheitensprachen (Confemili), Vorstandsmitglied des Volksgruppeninstituts
und Mitherausgeber des Buches „Lebendige Sprachinseln – Beiträge aus den historischen
deutschen Minderheiten in Italien“ vom Dokumentationszentrum Lusern, 2004.
Aus dem Sprachinselalltag
Aus dem Gesagten geht zwar hervor, dass man aus vielen Quellen Informationen über das Alltagsleben schöpfen kann, aber so richtig Einblick bekommt man erst, wenn man die Gemeinschaften besucht, wenn man mit den Menschen dort spricht, wenn es gelingt, sozusagen hinter die Kulissen zu schauen. Bei den Walsern, es sind das die deutschsprachigen Gemeinschaften rund um den Monte Rosa, ist grundsätzlich zwischen den Walsern im Aostatal und denen in der Region Piemont zu unterscheiden. In Aosta wirken sich die Sonderbestimmungen der dortigen Autonomie auf das Kulturleben sehr positiv aus. Allerdings besteht dort ein nahezu unüberwindbares Sprachenproblem: Gressoney hat sich im Laufe der Geschichte kulturell und sprachlich viel stärker an die Schweiz angelehnt und somit wird dort „titsch“ gesprochen, wogegen man im zehn Kilometer talauswärts gelegenen und südlich orientierten Issime „töutschu“ spricht. Dieser Unterschied gipfelt in einem zweibändigen Wörterbuch, 1998 vom Walser Kulturzentrum herausgegeben. Eines trägt den Titel „Greschòneytitsch“, das andere jenen von „D’Éischemetöitschu“. Auch die vom Pädagogischen Institut herausgegebenen Schulbücher tragen den unterschiedlichen Sprachformen Rechnung. Sprachlich schwieriger haben es die Walser im Piemont: Eine jahrzehntelange sprachliche und kulturelle Unterdrückung hat enormen Schaden angerichtet. Dazu kommt noch die geografische Abgeschiedenheit der einzelnen Dörfer und die verkehrstechnische Lage. Trotzdem: Der Zusammenschluss mittels neuer Technologien, aber auch die „Internationale Vereinigung für Walsertum“ hat die Walser wieder enger zusammengebracht. Aus Südtiroler Sicht ist zu erwähnen, dass die Kontakte zu den Walsern eher spärlich ausfallen, einmal wegen der geografischen Entfernung, zum anderen auch wegen der Sprachformen. Wir tun uns mit dem Alemannischen eben schwerer als mit dem Bairischen. Zu einer relativ homogenen Gemeinschaft können auch die Zimbern zusammengefasst werden. Wir finden sie noch in den Dreizehn Gemeinden nordöstlich von Verona, in den Sieben Gemeinden auf der Hochebene von Asiago, im Cansiglio südöstlich von Belluno und schließlich in Lusérn. Die Zimbern sagen von sich, dass sie weltweit möglicherweise eine der kleinsten lebenden Sprachgruppen sind; in der Tat, es sind kaum mehr als etwa 400 Sprecher weltweit, und das eben weltweit. Es ist wohl dieses Bedrohtsein, das die Zimbern zu einer ganz besonders intensiven Aktivität zur Erhaltung von Sprache, Kultur und Brauchtum herausfordert. Heute findet man eine Fülle von Büchern in und mit zimbrischer Sprache. Dass die Sprache aber auch in der Wirtschaft Eingang findet, beweist etwa der Leitspruch für eine örtliche Raiffeisenkasse, der da heißt „Leban, arbatan, gawinnan, sparan in de rechtekot“. Eine Riesenfreude haben die Zimbern auch mit Papst Benedikt XVI., war er doch Mitglied des „Curatorium Cimbricum Bavarensis“ (Bayerisches Zimbernkuratorium). Eine überaus lebendige kulturelle Tätigkeit ist auch bei den karnischen Sprachinseln festzustellen (Plodn-Tischlbong-Zahre). Wieder geht es darum, hineinblicken zu können, Zugang zu finden in die Kulturinstitute, hineinzuschauen in die Sprache, blättern zu können in den vielen Publikationen und in den Wörterbüchern, die eine unerlässliche Hilfe für die Verschriftlichung und somit die Erhaltung der Sprache darstellen. Gerne erwähne ich den Titel der Tischlbonger Kulturzeitschrift, der ganz bewusst auf die Schwierigkeit der Sprachpflege hinweist: „... asou geats ... unt cka taivl varschteats“ Und wer im Weltnetz herumstöbert, stößt sicherlich auf die Seite mit dem Namen „taicinvraul“ (Deutsch in Friaul). Als ein Sonderfall in der Sprachinselproblematik wird das Kanaltal angesehen. Dort ist ja nicht ein Sprachinseldeutsch beheimatet, sondern Kärntnerdeutsch bzw. Standarddeutsch. Im Kanaltal spricht man aber auch Italienisch, ebenso Slowenisch und zum Teil auch Friaulisch. Also ein buntes Sprachengemisch. Im Kanaltal begegnen sich drei große europäische Kulturen. Nicht umsonst ist der Wallfahrtsort Maria Luschari ein internationaler Begegnungspunkt für die germanische, die romanische und die slawische Kultur. Zum Fersental, dem Tal unserer Krumer, hatte Südtirol schon immer eine ganz besondere Beziehung. Heute kommen nicht mehr die Tatlkrumer und die Stoffkrumer zu uns in die Dörfer. Aber gerne fahren wir ins Fersental auf Besuch, denn es liegt ja vor der Tür und auch die Sprache verstehen wir recht gut. Ein Besuch im Kulturinstitut gehört ebenso zur Pflicht wie der Besuch beim Filzerhof, einem als Freilichtmuseum zur fersentalerischen Kultur wiederhergestellten Bauernhof. Und wer besucht nicht die Kirche in Vlarötz, wo der Geistliche Jackel Höuwer (Jakob Hoffer) „Pfoff wa Ausserperk“ war. Auch in diesem Tal treffen wir immer wieder auf Zeugnisse von Sprache und Brauchtum und es ist nicht schwer, mit den Ortsansässigen in „bersntolerisch za kloffn“ (Fersentalerisch reden).
Walserdorf bei Alagna-Im Lande in Piemont
Tischlbong – der Titel der Kulturzeitschrift „asou geats ...“
Aber, es gibt auch so manche Schwierigkeiten
Der Weg nach oben ist leider sehr steinig. Die Schule, die Kirche, die öffentliche Verwaltung, die Medien, die Sprache selbst sind Elemente, die den Sprachinselalltag und die kulturelle Arbeit wesentlich beeinflussen und mitgestalten.
Die Schule:
• Es gibt keine Schulen in der Muttersprache, sondern lediglich italienischsprachige Schulen; wenn es Lehrer aus dem eigenen Dorf gibt, ist das ein besonderer Glücksfall, denn nur sie können Sprache und Kultur am besten vermitteln, aber es gibt auch Schulen, bei denen solche Lehrer fehlen.
• Der Unterricht der Ortsprache erfolgt nur für wenige Stunden in der Woche, manchmal auch nur auf freiwilliger Basis in den Nachmittagsstunden; und manche Eltern meinen, das Kind solle lieber Englisch oder Deutsch-Hochsprache lernen, als sich mit der Ortsprache herumzuschlagen.
• An einigen Orten werden außenstehende Experten zum Unterricht hergeholt, aber auch die müssen erst gefunden werden.
• In manchen Orten ist die Schulstelle selbst in Frage gestellt, denn mit der schwindenden Bevölkerungszahl geht auch die schwindende Schülerzahl einher.
Die Kirche:
• Es gibt nur einige vereinzelte Priester, die der Ortsprache mächtig sind: Der Gottesdienst und liturgische Feiern wickeln sich somit in Italienisch ab, allerdings wird bei besonderen Anlässen das Vaterunser gebetet, ein Versuch, die alte Sprache wieder in die Kirche zurückzubringen. Man hat also schon den Eindruck, dass sich so manches zum Besseren wendet.
Die öffentliche Verwaltung:
Der Gebrauch der Ortsprache in den Ämtern, aber auch in der Toponomastik ist sehr eingeschränkt, meistens auch weil nicht alle Beamten die Ortsprache beherrschen. Zwar sind mit dem schon zitierten italienischen Minderheitenschutzgesetz so genannte „Sprachenschalter“ eingerichtet worden, deren Hauptzweck es ist, den Menschen beim Verwenden der Ortssprache in den öffentlichen Ämtern behilflich zu sein, aber die Anwendung sieht manchmal etwas anders aus als vom Gesetz vorgesehen. Trotzdem tut sich was: Da werden italienische Straßenbezeichnungen durch neue Namen ersetzt. Man versucht Zeichen zu setzen, um die Gemeinschaft „sichtbar“ zu machen. Das ist wichtig, denn der Tourist soll sehen können, dass er sich hier in einem besonders interessanten Gebiet befindet.
Die Medien:
• Printmedien: Es gibt keine Tageszeitung in der Muttersprache. Und wenn eine italienische Tageszeitung hie und da Berichte in der Ortsprache veröffentlicht, ist das schon ein Glücksfall. Bleiben halt die Lokalblätter übrig, aber die kosten viel Geld und können nur periodisch erscheinen.
• Radio-Fernsehen: Sieht man einmal von der Möglichkeit ab, deutsche Sendungen über Satellit zu empfangen, dann gibt es eigentlich auch nichts mehr in diesem Bereich. Zwar arbeiten einige Privatsender, aber die Möglichkeiten sind begrenzt. Und der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist für Sendungen für die Sprachinseln meistens nicht zu haben. Andererseits kann berichtet werden, dass Privatsender auch Nachrichten in der Minderheitensprache ausstrahlen.
Die Sprache selbst:
• Die soziale Stellung der Sprache innerhalb der Gesellschaft ist ein wesentliches Element für Erhaltung oder Niedergang einer Minderheitensprache. Es sind die Menschen selbst, die durch ihr Verhalten entscheiden, ob die Sprache erhaltenswert und pflegenswert ist oder ob es sich um eine Sprache von „minderem“ Wert (Minderheitensprache) handelt. Bei den Sprachinseln selbst gibt es zwar auch einige Menschen, die den eigenen mittelalterlichen Sprachformen nur bescheidenes Interesse entgegenbringen, es gibt aber immer mehr solche, die den kulturellen Wert derselben wohl zu schätzen wissen. Natürlich ist es so, dass das Sprachinseldeutsch außerhalb der Dorfgemeinschaft kaum Verwendung finden kann, denn die Arbeitswelt und die Wirtschaft verlangen andere Sprachformen. Andererseits wird es schwierig für den Erhalt einer Sprache, wenn diese im Alltag und in der Familie nicht gebraucht wird. Sie läuft Gefahr ins Museale abzusinken. Gott sei Dank findet man bei den Sprachinseln zur Zeit durchgehend eine positive Haltung zu dieser Frage. Damit die Sprache weiterleben kann, muss sie verschriftlicht werden. Bis heute ist das Sprachinseldeutsch nur mündlich weitergegeben worden, und niemand wusste so recht, wie man es schreiben sollte. Inzwischen sind bei fast allen Gemeinschaften Wörterbücher und Grammatikbücher herausgegeben worden, meistens unter wissenschaftlicher Führung von Sprachexperten aus dem Ausland. Dort, wo solche Bücher sind, liegt es bei den Gemeinschaften selbst, diese festgeschriebenen Sprachformen anzunehmen und anzuwenden.
Abb. 1: Die Zahre – Flügelaltar von Michael Parth aus Bruneck (1551)
Schlussbemerkungen
Zurzeit ist bei den Sprachinseln neues Leben eingezogen, ein neues Selbstbewusstsein, ein neues Bemühen um Erhaltung von Sprache und Kultur sind festzustellen. Überall finden wir Menschen, die sich ehrlich darum bemühen, Gott sei Dank auch junge. Aber dieses Bemühen erfordert viel Kraft und großen Idealismus. Immer mehr Menschen tragen dazu bei, dieses Bemühen vor allem ideell zu unterstützen. Auch wir Südtiroler können die Sprachinseln unterstützen, ideell und durch unsere Solidarität. Leider findet man diese manchmal dort nicht, wo man sie sich erwarten könnte. B. Wurzer schreibt im Vorwort zu seinem Buch unter anderem: „Das Schicksal dieser Gebiete verdient die besondere Aufmerksamkeit der Südtiroler. Die dargestellten Verhältnisse lassen nämlich erkennen, wie langsam und wie rasch Art und Wesen eines Volkes versinken. Es ist notwendig, das Interesse des In- und Auslandes zu wecken und die Aufmerksamkeit auf diese verlassenen Gemeinden zu lenken, damit sie das Gefühl des Vergessen- und Verlassenseins verlieren. Mögen die deutschen Sprachinseln viele Freunde gewinnen und im vereinten Europa aus ihrem Dornröschenschlaf zu einem neuen, schöneren Leben erwachen.“ Zurzeit sind grundsätzlich positive Rahmenbedingungen für ein Wiederaufblühen der deutschen Sprachinseln gegeben. Sie selbst haben ein neues Selbstbewusstsein erworben, sie selbst sind darum bemüht, auf ihre Sprache und ihre Kultur aufmerksam zu machen. Heute sind es „Lebendige Sprachinseln“.