Aus dem Buch "Lebendige Sprachinseln"

LUSÉRN / LUSERNA -

Zimbrische Gemeinschaft im Trentino

GEOGRAFISCHE BESCHREIBUNG

Lusérn-Luserna: das Dorf, gesehen von

Lusérn-Luserna: das Dorf, gesehen von "Hüttn" aus

 

Die deutschsprachige Trentiner Gemeinschaft von Lusérn ist an der mittleren südlichen Grenze einer großen Hochebene angesiedelt, die sich in den Gegenden von Folgaria und Lavarone und von dort bis zum Vezzena-Pass (1402 m ü.d.M.) erstreckt, wo man durch die schmale Scharte des Valle dell’Assa bis zu den nahen »Sieben Gemeinden« von Asiago gelangt. Das Gebiet, das sich mit seinen natürlichen Geländeterrassen über dem Valle dell’Astico hinzieht, weist tiefe Täler und Steilhänge mit Höhenunterschieden bis zu 600 m auf. Die natürlichen Grenzen sind von den Reliefformen her durch den Taleinschnitt des Val Torra im Osten und des Rio Torto am gegenüberliegenden Ende gegeben. Die Hochebene ist ca. 20 km2 groß, doch gehören derzeit nur 8 davon – in einem Höhenabschnitt zwischen 1200 und 1550 m – administrativ zur hier behandelten Gemeinschaft. Die verbleibenden 12 km2 sind auf die zahlreichen Gemeinden aufgeteilt, die in dieser Zone Eigentumsrechte genießen: Weit ausgedehnt ist das Gebiet von Levico Terme, zu dem ein Großteil der Vezzene gehört, gefolgt von Caldonazzo mit dem Monte Rovere und Lavarone mit Millegrobbe und Laghetto. Im Süden grenzt der Ort auch an Pedemonte und Casotto, beide am Bergfuß gelegen. Das Gelände ist leicht gewellt, die Gipfel sind kaum höher als 2000 m.
Die Ansiedlung setzt sich aus bloß zwei Orten zusammen: Lusérn (1333 m), in einem schmalen, fast eben in Ost-West-Richtung über dem sogenannten Tal von San Antone verlaufenden Stück Land, und Tezze (1288 m) in einer Senke westlich des Hauptortes. Es handelt sich hier um ein traditionelles Straßendorf1, während auf der Anhöhe bergseits des Wohnortes in einem ebenen Abschnitt des Berghanges isolierte Häusergruppen, Hüttn (Baite) genannt, anzutreffen sind.
Jenseits des Kamms von Malga Campo, in einem kleinen Tal bergseits der Quellen der Torra, liegen die drei Siedlungen des »Feriendorfes« Bisele: Untarhaüsar (Case di sotto), Obarhaüsar (Case di sopra) und Galen (Übername einer ortsansässigen Familie). Ursprünglich war die kleine Hochebene mit den anderen Streudörfern des Gebietes nur durch wenige Wege verbunden, die sich überdies in einem schlimmen Zustand befanden. Bis Mitte des 19. Jh. war der Hauptweg an den abschüssigen Stellen unter dem Ort bis Brancafora: ein einfacher Weg, der im Winter aus Gründen der Sicherheit nicht begangen werden konnte. Die Verbindung mit dem Vezzena-Pass und anschließend mit Asiago war hingegen durch die Straße gegeben, die über das Eck (historischer Ortsteil) herauf nach Cost’Alta führte. Die Straße nach Lavarone, heute die Hauptverbindung zum Talboden, wurde erst zwischen 1882 und 1885 gebaut2. Zu Beginn des 20. Jh. entstand die Fahrstraße, die von Monte Rovere nach Caldonazzo führt.
Die Landstriche um Lusérn zeigen deutlich das Wirken des Menschen, die Versuche und Anstrengungen, die unternommen wurden, um Meter für Meter Boden zu erobern. Das häufigste Bauelement ist der Stein: Er wurde eingesetzt, um Felder und Gemüsegärten terrassenförmig anzulegen und um trotz der starken Steigung an bestimmten Stellen (vor allem unterhalb des Wohnortes) die Nutzung und Erweiterung der Ressourcen zu gestatten. Die flacher verlaufenden Zonen, die sich ebenfalls durch ein dichtes Netz von Trockenmauern auszeichnen – in diesem Fall Eigentumsgrenzen – dienten hingegen als Weideland.
Lusérn ist unverkennbar eine Siedlung des Hochgebirges, die den Einfluss der 1300 m Höhe spürt: In den kälteren Monaten des Jahres macht sich auch der Obar-bint (Nord- wind) bemerkbar, der, da er keine Hindernisse auf seinem Weg vorfindet, den Ort voll erfasst. Die andere Seite unterliegt hingegen wegen der Südwest-Neigung der weiten Kalkterrasse und der besonderen Weite des Horizonts intensiver Sonneneinstrahlung. Die relativ reiche Niederschlagsmenge liegt um 1200 mm/Jahr3.
Die Vegetation zeichnet sich vorwiegend durch Mischwald aus, der blattwechselnde Holzgewächse und Nadelwald umfasst; stark verbreitet sind Buche, Tanne, Fichte und Lärche.

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1 A. Baragiola, La casa villereccia delle Colonie Tedesche Veneto-Tridentine, Comunità Montana dell'Altopiano dei Sette Comuni, Vicenza, 1980 (orig. Ausgabe 1908).
2 H. Nicolussi Castellan, Luserna: la perduta isola linguistica in M. B. Bertoldi (Hg.), Luserna una cultura che resiste, Trento, Innocenti 1983.
3 Associazione Culturale Kulturverein Lusérn (Hg.), Lusérn kontart - Luserna racconta - Lusérn erzählt - 4, Trento, Nichelatti, 1996

STÄRKE DER GEMEINSCHAFT

Die Menschen haben sich zu diesen besonderen Berggemeinschaften zusammengeschlossen. Diese erfordern ihre eigenen Gesetze und Maßstäbe, die für andere Gesellschaftsformen nicht anwendbar sind.
Jede Berggemeinschaft lebt aufgrund der Umstände unter spezifischen Bedingungen und versucht die Gefährdung des Gleichgewichtes auszuschalten, denn auch eine noch so geringfügige Änderung kann große Störungen nach sich ziehen.
Die allgemeine Annahme, das Hochgebirge sei ein Ort, an dem alles in langsamem Tempo erfolgt und den der große Strom der Geschichte nur gering beeinflusst, ist irrig, denn der Berg drängt immer nach Veränderung. Ebenso wenig stimmt es, dass die Bergdörfer verschlafen und unveränderbar seien und in denen seit Jahrhunderten alles in derselben Weise abläuft; in Wahrheit gilt oft das Gegenteil von dem, was man gemeinhin annimmt. Die Berggemeinschaften entstehen, entwickeln sich und wachsen, bzw. sie schrumpfen und sterben in überschaubaren Zeiträumen, nicht unbedingt in epochalen Abschnitten. Auch Lusérn konnte sich einem Wandel nicht entziehen.
Die Bauerngemeinschaft wurde im 14. und 15. Jh. von Familien gegründet, die aus den nahen deutschsprachigen Gemeinden der Hochebene, von wenigen, bis Ende des 16. Jh. urkundlich belegten Bauernhöfen, hierher gezogen waren4; bis zum Ersten Weltkrieg wuchs sie rasch, ja ihre Entwicklung war geradezu ungewöhnlich intensiv1.

Die kirchlichen Eintragungen2 zeigen, dass die Gemeinschaft Lusérn von ca. 200 Einwohnern, die Mitte des 18. Jh. gezählt wurden, in der Zeit von 1919 bis 1921 auf 1055 stieg. Dann war der Trend unaufhaltsam rückläufig: Der Rückgang erfolgte bis zur Option von 1942 langsam, doch stetig, in den darauf folgenden Jahrzehnten rascher. In den Jahren 1960 und 1980 umfasste die Gemeinschaft 654 bzw. 427 Einwohner3. Im Jänner 2002 scheinen in den Meldeblättern der Gemeinde 320 Personen auf, von denen nicht alle ständig in der zimbrischen Gemeinde wohnhaft sind.
Angesichts des nach wie vor anhaltenden demographischen Rückgangs und der Tatsache, dass das Durchschnittsalter der Bewohner von Lusérn sehr hoch ist4, wirft dieser konstante Bevölkerungsschwund für die (nicht allzu ferne) Zukunft schwerwiegende Fragen zu den Überlebenschancen der Sprachgemeinschaft auf.

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1 Zum Beispiel verdreifachte sich die Zahl der Einwohner zwischen 1826 und 1900 ohne Zuwanderung. C. Prezzi, Patir Bisogno, Economia e Storia di Luserna tra Ottocento e Novecento, Luserna, Dokumentationszentrum Lusérn, 2001.
2 Catalogus Cleri des Archivs der Bischhöflichen Kurie von Trient.
3 Allgemeine Volkszählung
4 Aus manchen Statistiken geht ein Durchschnittsalter von 57 Jahren hervor.

GESCHICHTE DER ZIMBRISCHEN BESIEDLUNG

Funde von Metallgegenständen aus der Zeit um 1200 v. Chr. zeigen, dass diese Anhöhen bereits in vorgeschichtlicher Epoche bewohnt waren1, doch wissen wir recht wenig über den Ursprung und den Bestand dieser ersten Siedler. Fest steht, dass das Gebiet in einer späteren Periode von deutschen Gruppen kolonisiert wurde, die sich in einem weiten Raum – einschließlich des gesamten Berggebietes zwischen der Etsch und der Brenta – niederließen; hier lebten bis vor ca. zwei Jahrhunderten über zwanzigtausend Menschen, die eine mitteleuropäische Sprache gebrauchten. Heute ist Lusérn die letzte Insel, in der noch fließend das »Zimbrische« gesprochen wird – eine Sprache, die Maria Hornung als die älteste lebende Randsprache des deutschen Sprachraums eingestuft hat.2
Lange Zeit hindurch äußerten sich Historiker und Forscher zum Ursprung dieser fremdsprachigen Kolonie, wobei sie oft zu widersprüchlichen Ergebnissen kamen, die in manchen Fällen jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrten.
Auch Wilhelm Baum, Verfasser einer bemerkenswerten Studie zu diesem Thema3, führt an: Es gibt bloß wenige Kapitel in der Geschichte der Bergzonen, über die im Laufe der Jahrhunderte eine solche Menge falscher Hypothesen angestellt wurde wie über die sogenannten »Zimbern«4.
Dieses Blühen der Theorien ist darauf zurückzuführen, dass unsere Halbinsel, wie Pedrazza im historischen Anhang an ihren Aufsatz über die deutschsprachigen Minderheiten5 bemerkt, im Laufe der Geschichte zahlreiche Einfälle von Völkern aus nördlicheren Zonen Europas erlebte.
Die Verfasserin spricht von der Möglichkeit einer Einteilung in drei große Kategorien:
1. Die erste bilden sicher die Zimbern, eine alte Bevölkerungsgruppe, die von der Halbinsel Jütland kam und 101 v. Chr. vom Konsul Marius bei den Campi Raudi bei Vercelli besiegt wurde.
Lange Zeit hindurch meinte man, die deutschen Gruppen, die auf Anhöhen wie Lusérn siedelten, wären die Nachfahren der in die Berge geflüchteten Überlebenden dieses alten Kriegervolks. Der erste bedeutende Vertreter dieser Ansicht war Marco Pezzo; gegen Mitte des 18. Jh. erarbeitete er eine Theorie6die durch einige antike Schriften erhärtet wurde, darunter die von Ferretto dei Ferretti 1330 veröffentlichte »Historiae«, in welcher die Stadt Vicenza – vor den Toren der untersuchten Gebiete gelegen – Cymbria genannt wurde7. Nach wie vor bezeichnet man die deutschsprachige Bevölkerung dieser Berge, wenn auch fälschlich, als Zimbern.
2. Eine zweite Gruppe umfasst die großen Ströme fremdstämmiger Bevölkerung, die ab dem 4.–5. Jh. tiefe Spuren in Europa hinterließen. Drei Stämme waren in den zur Diskussion stehenden Gebieten bedeutungsvoller als die anderen: Als erste trafen die Ostgoten Theoderichs ein (488-553), gefolgt von den Langobarden unter Alboin (568-774) und schließlich 774 von den Franken unter der Führung von Karl d. Großen. Zahlenmäßig war diese Gruppe nicht zu unterschätzen, da allein die Langobarden eine Stärke von über zweihunderttausend erreichten. Diese theoretische Gliederung scheint nun überholt zu sein, auch wenn noch 1978 Alfonso Bellotto im Vorwort zu »I Racconti di Luserna« schrieb: »Ebenso ist es jedoch möglich, dass diese ‘deutschen’ Sprachinseln die Reste nicht romanisierter Langobarden sind8«.
3. Die letzte Gruppe bilden die neuen Siedler, die ab dem 8. Jh. unter dem Einfluss von Klöstern und kirchlichen Einrichtungen hierher kamen.
In dieser Zeit entstanden neue ländliche Siedlungen unter der Perspektive einer besseren Nutzung des Ackerlandes oder seiner Erweiterung, die oft durch Siedler aus anderen Gegenden erfolgte; vor allem nach dem Jahr Tausend ergab sich ein starker Drang nach Bodenverbesserung und Rodung durch Mönche9. In dem Zusammenhang sind zahlreiche Urkunden über die Ankunft der deutschen Bevölkerungsgruppen zur Besiedlung von unbewohnten Gebieten der Alpen zu nennen.
Eine weitere Hypothese zum Ursprung der sogenannten Zimbern bot Agostino dal Pozzo10, der, nach eigener Klassifikation, sieben alte Volksgruppen als mögliche ursprüngliche Stämme der deutschsprachigen Bevölkerung der Sieben und Dreizehn Gemeinden nannte11: Räter (oder Kelten-Teutonen), Zimbern, Schweizer Tiguriner, Alemannen, Hunnen, Goten, späte deutsche Siedler.
Die entscheidende Wende bei der Auslegung der zimbrischen Siedlungsgeschichte ergab sich mit der Entdeckung einer Urkunde aus dem 11. Jh. durch Johannes Andreas Schmeller; darin wird angeführt, dass im Jahrzehnt nach 1053 Familien aus der Gegend des Klosters Benediktbeuern in Bayern wegen einer Hungersnot ihre Heimat verließen und zum Kloster S. Maria in Organo in Verona zogen. Dies rückte die historischen Beziehungen zwischen den beiden Klöstern in ein neues Licht, wie auch die Bindung des ersteren zur Stadt Verona. Es scheint auf, dass Verona ab 1036 vom bayrischen Bischof Walther geführt wurde und dass im Kloster S. Maria der aus Benediktbeuern stammende Abt Engelbert wirkte. Die Familien, auf die sich die von Schmeller gefundene Urkunde bezieht, ließen sich auf der Hochebene der späteren Dreizehn Gemeinden nieder.
Etwa zu derselben Zeit kam auch die mächtige Familie der Ezzelino aus Deutschland, deren Stammvater Hezilo war. Vermutlich begann diese Familie das Werk der Besiedlung der späteren »Sieben Gemeinden« mit einer Gruppe aus Westbayern und Westtirol12.
Die wichtigste Rolle hinsichtlich der zimbrischen Besiedlung von Trentiner Boden spielte Friedrich von Wangen, Fürstbischof von Trient von 1207 bis 1218, der ebenfalls deutschen Ursprungs war. Er erwarb Land im Berggebiet südöstlich der Stadt Trient: 1208 kaufte er vom Adeligen Enghelberto da Beseno aus dem Vallagarina die Hälfte von dessen Burg sowie seine Güter auf dem Berg von Folgaria, acht Jahre später übernahm er die Besitzungen von Costa Cartura bei Folgaria, die vorher den Caldonazzo gehörten13.
Friedrichs Plan war die Besiedlung der unbewohnten Gebiete östlich der Etsch. Um sein Ziel zu erreichen, setzte er die deutschen Gruppen aus den Berggebieten von Verona und Vicenza ein.
Zur Förderung der Kolonisierung gab er Heinrich und Ulrich von Posen den Grund Costa Cartura zur Errichtung von 20 oder mehr Bauernhöfen. Wer einwilligte, dorthin zu ziehen, sollte eine Geldzuwendung von sieben veronesischen Lire und Steuerfreiheit für einige Jahre erhalten14.
Das genannte Gebiet war nicht ganz unbewohnt (Folgaria bestand zum Beispiel schon). Auch Schmeller bemerkte, dass sich in einigen Orten eine Überlappung mit romanischer Bevölkerung ergab. Nach Ansicht des bayrischen Germanisten zeigt sich dies – wie etwa in Tirol – anhand der Ortsnamen, unter denen die ältesten Bezeichnungen nicht deutsch sind15.
In einer Urkunde von 1257 taucht zum ersten Mal der Name »Lavarone« auf, 1424 erscheint schon die deutsche Benennung »Perg Lafraun«16.
Neben Lafraun/Lavarone entstanden Laimtal/Terragnolo, Brandtal/Vallarsa und vermutlich zuletzt Lusérn/Luserna.

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1 E. Marzatico - R. Perini, Ricerca archeometallurgica, in Identità, Nr. 10 - März 1993
2 M. Hornung, Il dialetto cimbro dei Sette Comuni è antico altotedesco?, in Terra Cimbra, Nr. 68 - 1988.
3 W. Baum, Storia dei Cimbri - Geschichte der Zimbern, Landshut, Curatorium Cimbricum Bavarense 1983
4 ebd., S. 7
5 M. Pedrazza, Il diritto ad una indentità personale ed etnica "diversa", Pergine, Publistampa 1991
6 M. Pezzo, Dei cimbri veronesi e vicentini, Giazza (VR), Taucias Gareida, 1989 (orig. Ausg. 1759).
7 W. Baum, a. a. O.
8 A. Bellotto (Hg.), I Racconti di Luserna, Vicenza, Dal Molin 1978, S. 5
9 A. Scaglia, Comprendere le forme dello spazio. Lineamente di sociologia dell'insediamento umano, Trento, Soziologische Fakultät, a. a. 1996/97.
10 A. Dal Pozzo, Memorie istoriche dei Sette Comuni vicentini, Schio, Miola, 1910 (orig. Ausg. 1820).
11 Siehe auch A. Bellotto, a. a. O., S. 4
12 W. Baum, a. a. O.
13 D. Reich, Notizie e documenti su Lavarone e dintorni, Bologna, Atesa 1987 (orig. Ausg. 1910).
14 ebd.
15 J. A. Schmeller, Über die sogenannten Cimbern der VII und XIII Communen auf den Venedischen Alpen und ihre Sprache, Landshut, Curatorium Cimbricum Bavarense 1984 (orig. Ausg. 1837). Zum Beispiel sind im speziellen Fall von Lusérn Ortsnamen wie Monteruf (Monterovere) und Camp (Campo) nicht deutsch.
16 W. Baum, a. a. O.

VON DER BILDUNG DER LUSERNER GEMEINSCHAFT BIS ZUM ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS

Der Name Lusérn leitet sich vermutlich vom Ortsnamen Laas ab: ein Pass, über den das Valsugana erreichbar ist.
Im Mittelalter zogen Pilger von Norden durch die Täler dieses Trentiner Gebietes, um den Hafen von Venedig zu erreichen und von dort mit dem Schiff nach Jerusalem weiter zu fahren.
Bereits im 10. Jh. ist das Bestehen eines »Hospitals« nachweisbar, das von den Tempelrittern bei Brancafora am Bergfuß geführt wurde.1 In den Perioden, in denen – wegen möglicher Hochwasserführung des Flusses Astico und der Versumpfung des Gebietes Bassa Valsugana – die Hauptverbindungstrassen gefährlich waren, konnte der Weg begangen werden, der von Caldonazzo nach Monte Rovere hinaufführt und dann entlang der Südgrenze der Hochebene verläuft. Dieser Durchzug von Pilgern mag, gemeinsam mit anderen, weit komplexeren Faktoren, gewisse Formen der Sesshaftigkeit bewirkt haben. Den ersten speziellen Bezug auf Lusérn finden wir jedoch erst in einem Kaufvertrag des 15. Jh., in dem Folgendes zu lesen steht:
»Samstag 27.Jänner 1442, fünfte Indikation, in Caldonazzo in der Stube des Hauses von Herrn Tomaso Graiff, Hauptmann und Verweser der Burg Caldonazzo, im Beisein von Herrn Bartolomeo, Sohn des verstorbenen Alberto Puti von Caldonazzo, seinem Sohn Leonardo von Gaspare, Sohn von Herrn Bertoldo von Lavarone, und Nicolusso, Sohn des verstorbenen Bertoldo von Lavarone, sagte Herr Biagi, vormals Herr Brigento von Lusérn, Bewohner von Asiago, dass er bezahlt und vollkommen zufriedengestellt worden ist von Tomaso genannt Graiff, Hauptmann und Verweser (rectore donorum omnium) der Burg Caldonazzo im Namen des erlauchten Fürsten und Herrn Sigmund Herzog von Österreich, Steiermark und Kärnten und Krain, Graf von Tirol und Vogt und Verteidiger der Kirche von Trient und ehrwürdiger Herr und Verwalter der zeitlichen Güter, bezüglich der Schuld von 55 Golddukaten, die besagter Herzog Friedrich (sic) dem genannten Biagio wegen des Kaufs von vier in Lusérn gelegenen Höfen schuldete, wie aus der Pachturkunde hervorgeht, die ich, Notar Negrello, eigenhändig geschrieben habe«.2
Diese Urkunde bezeugt, dass Lusérn Mitte des 15. Jh. bereits bestand und sich aus Berghöfen zusammensetzte. Diese Berghöfe waren vermutlich von Deutschen bewohnt – und Biagio, der im deutschsprachigen Gebiet Asiago lebte, in dem die erste zimbrische Besiedlung erfolgt war, verfügte dort über ansehnliches Eigentum. Ab nun wird die Ortschaft mehrmals in den Unterlagen der Herren von Caldonazzo und in den Rechtsakten der Gemeinschaften der Gegend erwähnt: Im Jahr 1471 rief Graf Giacomo des Hauses Trapp bei der Festlegung der Grenzen zur Hochebene der Sieben Gemeinden einige Zeugen zur Magnifica Corte; diese erklärten, dass Lusérn stets zum Jurisdiktionsbereich von Caldonazzo gehört hatte.3
Die erste Urkunde, in der vom Ursprung der Einwohner die Rede ist, reicht auf ca. 1454 zurück: Wie hier angeführt wird, ließen sich einige Bauern aus Lavarone auf dem Berg von Lusérn als Erbpächter der Pfarrgemeinde S. Maria di Brancafora nieder4. Außerdem scheint auf, dass das Gebiet des genannten Berges zur Kirche gehörte, die im darunter liegenden Valle dell’Astico lag. Aus einigen Berichten geht hervor, dass S. Maria neben dem Pfarrhaus, einem Berghof nördlich von Lavarone und Gütern in der Gegend von Caldonazzo, Levico, Breganze und Cogolo Folgendes besaß: »das Zehntenrecht auf alle Gründe innerhalb der Jurisdiktionsgrenzen der Pfarre, die von Tre sassi sotto i Piccoli, Cima Melijon, Valle della Tora, Vezzena, Sbant di Luserna bis zu den Unterständen des Riotorto reichen. Im Wesentlichen alle Gründe des oberen Valle dell’Astico, einschließlich Lusérn und Lastebasse. Innerhalb dieser Grenzen liegen die Berghütten Carotte, Ciechi, Longhi und Scalzeri, Casotto, Posta und Montepiano und Lusérn.«5
In Bezug auf die kleine zimbrische Gemeinschaft sind die Almhütten Bisele und Campo – die siebenunddreißig Lire Zehnten im Jahr zahlten – und die Berghöfe Hoseli und Nicolussi, Eigentum von Gasperi und Nicolussi, zu erwähnen.6
Graf Caldogno beschreibt in seinem Bericht von 1598 Lusérn als kleines Dorf mit rund 40 Familien, das sich über mehrere Gassen erstreckt und rund hundert Seelen zählt.7
Auch Pater Piatti beschreibt die Merkmale8, die Lusérn ab dem 16. Jh. allmählich annahm, und weist auf die Bedeutung einer Urkunde von 1561 hin, aufgrund derer ein Berghof in der Ortschaft Casotto alla Torà gepachtet wurde.
Diese Urkunde ist in zweierlei Hinsicht interessant:
- Es wird darin der Ausdruck »iura Lusernae« gebraucht, was darauf hinweist, dass diese Gemeinschaft damals bereits einen gewissen Grad an Unabhängigkeit und Autonomie erworben hatte und über eigenes Einkommen und eigene Rechte (iura) verfügte.
- Die Kirche S. Maria wird als »zu Lavarone zugehörig« bezeichnet, demnach umfasste zur damaligen Zeit der administrative Bereich von Lavarone auch die Siedlungen Brancafora, Casotto und Lusérn.
Zwischen 1610 und 1640 erhielten die Einwohner des Dorfes von den Grafen Trapp Gründe, die sie autonom bewirtschaften konnten9.
Lusérn erlebte wechselnde Phasen der Autonomie und Abhängigkeit von den angrenzenden Gemeinschaften.

Oft ergaben sich Eigentumskonflikte mit dem nahe gelegenen Lavarone, dem Lusérn 1710 auf Anordnung des Grafen Trapp zwecks besserer Verteidigung der Tiroler Grenzen einverleibt wurde10.
Nach zahlreichen Zusammenstößen und Gebietsforderungen erhielt Lusérn 1780 erneut die administrative Unabhängigkeit. Die Trennung der beiden Gemeinschaften erfolgte nicht problemlos, was die Aufteilung des Gemeinschaftsgutes anbelangt: Nach Ansicht der Luserner waren die ihnen zugewiesenen Gebiete kleiner als jene, die sie seit jeher genutzt und bewirtschaftet hatten.
In weit jüngerer Zeit (1912–1920) musste Lusérn im Anschluss an einen langen Streit mit Pedemonte, bei dem es um die Holzsteuer ging, einen Teil der abschüssigen, talseitig gelegenen Gebiete abtreten.
Dies reduzierte stark den für Ackerbau und Forst- und Weidewirtschaft verfügbaren Boden, wenngleich sich die Verwaltung mühte, auch durch Ankauf neue Gründe zu erwerben.
1934 wurde Lusérn zur autonomen Pfarrei, vorher war es formell von S. Maria di Brancafora abhängig. Das Streben nach Unabhängigkeit hat eine lange Geschichte: Lusérn war die von der Pfarrkirche am weitesten entfernte Gemeinschaft, es mussten etwa achthundert Meter Höhenunterschied auf einem Weg überwunden werden, der fast nur zu Fuß begehbar war und über abschüssiges Gelände führte. Aus einer Visitationsurkunde von 1647 geht hervor, dass sich der Geistliche ein Pferd zugelegt hatte, »da die Reise wegen der steinigen Wege und der Abgründe schwierig war und da die Familien von der Kirche weit entfernt wohnten«.11
Es ist deshalb verständlich, dass auf lange Sicht die Beschwerlichkeiten, mit denen diese Menschen fertig werden mussten, zu Forderungen führten, die den Bischof 1711 veranlassten, in Lusérn den Bau eines »öffentlichen Oratoriums« zu gestatten, das der Hl. Giustina geweiht wurde. Die Urkunden aus jener Zeit belegen außerdem, dass die Bergbewohner dieses Gebäude auf eigene Kosten und mit dem von ihnen gesammelten Almosen errichteten; vier Jahre später wurde die Weihe dieser Kirche genehmigt.12
Dies stieß auf Ablehnung durch Don Tamanini, Pfarrer von S. Maria, der hierin die Voraussetzungen für die Spaltung der zwei Gemeinschaften sah.13
Um die jahrelange Streitfrage zu lösen, schritt der Dekan der Kathedrale von Trient ein, der am 16. Mai 1717 ein Abkommen zwischen den Parteien erwirkte, dessen wichtigste Stellen hier angeführt seien:38 Der Geistliche von Lusérn konnte von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft gewählt werden, doch hatte der Pfarrer das Vetorecht hinsichtlich seiner Wahl. Die Seelsorge durfte nur in einem Abhängigkeitsverhältnis von der Mutterkirche erfolgen. Der Geistliche durfte keine Funktionen ausüben, für die er nicht die Erlaubnis des Pfarrers hatte. Die Kosten dieser Einrichtung mussten weiterhin von den Lusernern getragen werden. Das Pfarrhaus wurde gewährt, um die Teilnahme an der Messe zu erleichtern, und durfte in keiner Weise als Mittel für eine Spaltung der Pfarre angesehen werden. 1744 wurden ein Baptisterium und ein Friedhof gefordert, im Jahr darauf erhielt der Ort beides.
Die dramatischsten Ereignisse um diese Gemeinschaft gehören der jüngeren Geschichte an. Das 19. Jh., ein Jahrhundert großer Werke und großen Fortschritts, brachte auch die Cholera: In den warmen Sommern 1836 und 1855 wurde das Trentino von dieser Epidemie heimgesucht, die zwölftausend Opfer forderte.15 In Lusérn raffte alleine die zweite Seuchenwelle in der Zeit vom 10. August bis zum 22. September dreiundzwanzig Menschen dahin.16

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1 A. Carotta, Le nostre radici Brancafora - Notizie storiche suu'ospizio, la parrocchia e le comunità che ne facevano parte, Vicenza, Serenissima 1997.
2 P. G. Tovazzi, Compendium Diplomaticum, Nr. 140, S. 124-125, Zit. in S. Piatti, Palù - Palae. Frammenti di storia, Trento, Artigianelli 1996.
3 S. Piatti, a.a.O.
4 A. Grossi, Conoscere Lavarone e dintorni, Lavarone (TN), Comune die Lavarone 1997
5 A. Carotta, a.a.O.
6 A. Carotta, a.a.O.
7 W. Baum, a.a.O.
8 S. Piatti, a.a.O.
9 H. Nicolussi Castellan, a.a.O.
10 A. Nicolussi Moz, Luserna. Terra di uomini liberi, Volano (TN), Osiride, 2002
11 A. Carotta, a.a.O., S. 106
12 A. Carotta, a.a.O.
13 ebd.
14 ebd.
15 A. Giovannini, Trentino. I segni del tempo e degli uomini, Trento, Publilux 1996.
16 A. Nicolussi Moz, L'Ultimo viaggio, in Identità, Nr. 12 - Dez. 1993

DER NATIONALISMUS IN DEN ZIMBRISCHEN SPRACHINSELN DES TRENTINO IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

»Die erste Schule ist auch dann eine kulturelle Leistung, wenn sie von der Nationalität A in einem der Nationalität B gehörenden analphabetischen Dorf errichtet würde und wenn das fernere Ziel der ‘Leistung’ darin bestünde, die Dorfgemeinschaft vermittels der Schule der Nationalität B zu entfremden und für die Nationalität A zu gewinnen. Je- de Schule verdient zunächst einmal, dass man sie achte. Und jede Organisation, die sich in den Dienst der Schule und der Bildung stellt, darf Anspruch darauf erheben, dass man ihre Leistungen anerkennt und respektiert.«1
Gatterer führt uns mit diesen Worten seines emblematischen Buches in das Thema dieser Seiten ein, den Nationalismus in den deutschen Inseln des südlichen Trentino und speziell auf der Hochebene. Gatterer weist darauf hin, dass eben das Fehlen dieses Respekts gegenüber einem obersten Gut wie Bildung oft Feindseligkeit und zermürbende Kontraste in jenen Gemeinschaften bewirkte, die mehr als andere der Hilfe bedurften.
Der Nationalismus, der mit der kulturellen Expansion in den Sprachinseln des Trentino einherging, nahm ab Mitte des 19. Jh. konkrete Form an; in dieser Zeit traten bedeutungsvolle Ereignisse ein. Im Jahr 1866 war Österreich gezwungen, Venetien nach einem unglücklichen Krieg gegen Preußen an Italien abzutreten, was unter anderem die gefährliche Annäherung der Grenzen an die Hochebene mit sich brachte, die im Jahr 1915 dann auch zum Kriegsschauplatz wurde. 1867 war das Jahr des österreichisch-ungarischen Ausgleichs; nach einer Periode des missglückten Absolutismus sollte ein neuer liberaler Kurs zumindest dem Papier nach den verschiedenen Nationalitäten des Reiches auch in sprachlicher Hinsicht in den Schulen und in den Verwaltungen mehr Autonomie und Rechte sichern2.
Von 1869 stammt das Rahmengesetz über die Volksschulbildung, das nicht nur das schulpflichtige Alter auf 14 Jahre anhob und die Ausbildung der Lehrer durch die neuen Lehrerbildungsanstalten sicherte, sondern auch die kirchliche Macht in diesem Bereich reduzierte, allerdings mit kargen Ergebnissen in Tirol, einem streng katholischen und konservativen Land. Hier behielt der Pfarrer das Recht auf Religionsunterricht: In den kleinen Gemeinschaften war er nach wie vor unbestrittener Mittler zwischen Behörde und Volk, was er dem Prestige zu verdanken hatte, das sich von seiner Bildung und der Position auf der Kanzel ableitete. Außerdem hatte er im Ortsschulrat, der für die Verwaltung und Finanzierung der Schulen sorgte, etwas zu sagen3. Ein weiteres epochales Jahr war 1871: Deutschland wurde, nachdem es Frankreich eine schwere Niederlage zugefügt hatte, zu einer Realität. Diese emporstrebende neue Nation ging in der Zeit des Kulturkampfes daran, ihre Kultur und ihren Nationalismus über die Grenzen hinaus zu verbreiten, wie wir bald sehen werden. Schließlich das Jahr 1882: Die beiden verschworenen Feinde, Österreich und Italien, unterzeichneten gemeinsam mit Deutschland ein Militärbündnis, das anfänglich die irredentistischen italienischen und trentinischen Kreise in Schwierigkeiten brachte; in Wahrheit intensivierten sich jedoch hinter den wohlwollenden Versicherungen der Minister und der politischen Vertreter irredentistische Aktivitäten und niemand gab sich der Illusion hin, dass eine Abrechnung zwischen den beiden Staaten vermeidbar gewesen wäre. Deshalb darf es nicht verwundern, dass sich die Hochebene frühzeitig durch eine Reihe von Befestigungsanlagen, die 1915 bereits einsatzfähig waren, vorbereitete.
In diesem Zusammenhang blühte eine ganze Reihe von Vereinigungen – nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland und Italien -, die mit Interesse die südlich von Salurn liegenden Gemeinschaften betrachteten: Hier wurden für gewöhnlich Dialekte germanischer Ableitung gesprochen, Überbleibsel antiker mittelalterlicher Besiedlungen, die wie durch ein Wunder erhalten geblieben waren.
Dieser Erscheinung ging eine intensive Werbekampagne voraus, die Wissenschaftler und Beauftragte verschiedener Lager mobilisierte. Durch Abhandlungen historischer, linguistischer, archäologischer und sprachwissenschaftlicher Art sollten sie entgegengesetzte Thesen erhärten, mit anderen Worten, es sollte belegt werden, dass das südliche Tirol einst von räto-germanischen Stämmen bevölkert war, die durch die Römer kolonisiert wurden, oder dass die germanische Kolonisation, die dann fast ganz unterging, erst im Mittelalter erfolgte. Offenkundig waren diese Sprachinseln, die unversehrt den Nebel der Geschichte durchdrungen hatten, von vorrangigem wissenschaftlichen Interesse, da sie (dank der Sprache, den Gebräuchen und den Ortsnamen) dazu dienten, bestimmte Theorien zu festigen und andere zu widerlegen4.
Auf deutscher Seite bestanden folgende Vereinigungen: der Deutsche Schulverein, 1880 in Wien zu dem Zweck gegründet, deutsche Kindergärten und Schulen in den deutschen Sprachinseln zu fördern, vom Allgemeinen deutschen Schulverein und der österreichischen Regierung unterstützt (erreichte eine Mitgliederzahl von 200.0005); der Verein für das Deutschtum im Ausland oder VDA, 1881 in München gegründet; der Schutzverein Südmark, 1889 in Graz entstanden, er befasste sich mit der Neubesiedlung der als deutsch eingestuften Tiroler Gebiete durch den Erwerb von Land für deutsche Bauern und förderte nationale Produkte6 (klarerweise wies diese Vereinigung den heiklen Grenzgebieten große Bedeutung zu); schließlich der Tiroler Volksbund, die wirksamste Vereinigung, die auch am stärksten angefeindet wurde.
Der Tiroler Volksbund wurde 1905 in Sterzing (im Beisein des Pfarrers von Lusérn) gegründet; er war eine verhüllt protestantische und betont pangermanistische Vereinigung mit dem Motto »Tirol den Tirolern, ungeteilt von Kufstein bis zur Berner Klause«, sein Ziel war der Schutz, doch auch die Expansion der Kultur, der Sprache, der Sitten und der Nationalität der deutschen Bevölkerungsgruppen Welschtirols (Trentino) durch die Errichtung von Schulen, Kirchen und durch Förderung wirtschaftlicher Beziehungen7.
Diese Schwestervereinigungen waren eng verbunden, handelten oft in Abstimmung untereinander und hatten dieselben Führungskräfte. Ihre konkreten Maßnahmen reichten von der Bereitstellung ungeheurer Geldsummen bis zur einfachen Lieferung von Lehrmaterial und Weihnachtspaketen in die betroffenen Gebiete.
Im Grunde unterschied sich von dieser Vorgehensweise nicht die der italienischen Gegenseite, so ähnlich waren die Absichten und Programme: die Verteidigung der italienischen Nationalität und, wenn möglich, ihre Ausdehnung. Auch hier waren verschiedene Vereinigungen aktiv – die Pro Patria entstand 1886 in Rovereto, die Dante Alighieri 1889 in Rom, die Lega Nazionale trat 1890 an die Stelle der Pro Patria, als diese amtlich aufgelöst wurde, und die Società Trento Trieste wurde 1902 in Venedig gegründet. Die Pro Patria wurde als Reaktion auf die kulturelle und sprachliche deutsche Durchdringung des Trentino von einer Gruppe wohlhabender Bürger klarer liberaler Ausrichtung ins Leben gerufen und geleitet.8 Die liberale Partei spielte in diesem Kampf eine Schlüsselrolle als Vertretung der Bürgerklasse, die dank eines Wahlsystems, das sich bis 1907 auf den Zensus stützte, politische Macht hatte und stark nationalistische, wenn nicht so- gar irredentistische Ideen vertrat.9 Es war eine Bewegung, die aufgrund ihrer Natur enge Beziehungen zu Politikern, Intellektuellen und Vereinigungen italienischen Charak- ters unterhielt. Eine dieser Vereinigungen, die Dante Alighieri, machte kein Hehl aus ihrer Haltung und ihrem Programm:
»Diese 1889 entstandene Vereinigung fördert Schulen und Bibliotheken auch außerhalb des Trentino. Sie leistet den rivalisierenden Propagandagesellschaften Widerstand: den beiden Schulvereinen (dem deutschen und dem Wiener Verein), der Südmark (die sich bis Verona nach Süden erstrecken möchte), dem Volksbund«.10
Eben diese Verbindung führte zur Auflösung der Pro Patria, die von den österreichischen Behörden des Irredentismus bezichtigt wurde. Die Gesellschaft, die sie ablöste, die Lega Nazionale, übernahm zwar ihre Aufgaben, war aber vorsichtig genug, die grenzüberschreitenden Beziehungen geheim zu halten.
Die Ziele der Lega waren spiegelbildlich zu jenen des Schulvereins orientiert, d.h. sie umfassten den Schutz der italienischen Sprache durch die Errichtung von Schulen, Kindergärten und Bibliotheken, wobei die Finanzierung durch Beiträge von Mitgliedern, Konferenzen oder den Verkauf verschiedener Gegenstände erfolgte, doch langten Hilfsgelder auch von Italien ein. Vor der näheren Betrachtung spezieller Fälle sei erwähnt, dass diese konträre Stellung im Trentiner Panorama der damaligen Zeit wohl bekannt war und dass sich auch einflussreiche Persönlichkeiten für die eine oder andere Seite engagierten. Dies galt zum Beispiel für den Bischof Endrici von Trient (ab 1904). Er verteidigte das Vorgehen der Lega sozusagen mit dem Schwert, was ihm die Missgunst der deutschen öffentlichen Meinung eintrug – nicht so sehr aus nationalistischen, als vielmehr aus religiösen und sozialen Gründen, da er auf der Meinung verharrte, die pangermanistische Durchdringung drohe die Traditionen und Bindungen in den ländlichen Gemeinschaften zu stören, und auf die Gefahr hinwies, dass diese Inseln zu Brückenköpfen der protestantischen Religion werden könnten.11
In einem Telegramm, das er am 17. September 1911 den in Levico versammelten Universitätsstudenten sandte, warnte er vor der Präpotenz des Volksbundes, was Aufsehen erregte und harte Kritik zur Folge hatte. Dieselbe Meinung vertrat der katholische De Gasperi, Abgeordneter der Volkspartei (popolari) , der sich, gestützt auf die Zeitung mit dem bedeutungsvollen Namen »Il Trentino«, mit den nationalistischen Kämpfen im Trentino befasste (in einem Artikel vom 10. April 1906 zitiert er die Hochebenen) und den Volksbund hart verurteilte. Der Vertreter des positiven Nationalismus sah jedoch in der wirtschaftlichen Sanierung dieser Täler und in der Autonomie eine Möglichkeit, den Pangermanismus vom Trentino fernzuhalten : Er erfasste, dass der Kulturkampf tiefe soziale und wirtschaftliche Aspekte barg, doch die vorgeschlagenen Lösungen verdeutlichten die Barriere, die Katholiken und Liberale in Bezug auf das behandelte Problem trennte12.
Kurioserweise sah eine weitere herausragende Persönlichkeit der Zeit, Cesare Battisti, im materiellen Fortschritt und im Anstieg der Infrastrukturen einen möglichen Weg aus dem Dilemma, wie aus einem den Hochebenen gewidmeten Büchlein hervorgeht, das 1909 von der Lega Nazionale herausgegeben wurde und dessen Ertrag für die lokalen italienfreundlichen Schulen bestimmt war13. Trotz des politischen Abstandes unterstützten auch die Sozialisten von Zeit zu Zeit die liberalen Vorhaben in diesem Bereich, Battisti selbst war Mitglied der Lega14.

Im Mittelalter waren mehrere Wanderzüge aus deutschen Ländern aufeinander gefolgt, in deren Verlauf sich Bergleute, Bauern, Land-und Forstarbeiter und Holzfäller in einer ausgedehnten Zone niederließen: in den 13 Gemeinden von Verona und den 7 Gemeinden von Vicenza, auf den Hochebenen, im Raum Pergine und im Fersental. Im Laufe der Zeit wurde dieses Gebiet weitgehend italienisiert, sodass gegen Ende des 19. Jh. nur noch wenige Dörfer (wegen ihrer Isolierung) das Slambròt (Zimbrisch) sprachen – einen Dialekt mittelhochdeutschen Ursprungs, der als gängige Sprache verwendet wurde.15
Eine der häufigsten Anschuldigungen gegen die Pangermanisten betraf das forcierte Eindringen in jene Dörfer, die in jeder Hinsicht italienisch waren. Ein typisches Beispiel ist Lavarone, das vermutlich die am stärksten italienisierte Gemeinde der Hochebenen war, wie aus einem Artikel des »Il popolo trentino« von 1889 hervorgeht:
»(…) während, neben anderen Orten, die Gemeinde Lavarone das großzügige Vorbild gab, mit edler Geste das beachtliche Legat abzulehnen, das ihr für die Einrichtung deutscher Schulen in diesem Bergdorf angeboten worden war«.16
In jedem Fall waren es die Deutschen, die den ersten Schritt unternahmen. Im Jahr 1873 stellte der Baron von Biegeleben aus Wien dem Unterrichtsministerium eine Summe von einer Million siebenhunderttausend Gulden zur Verfügung, damit deutschsprachige Volksschulen in S. Sebastiano, Serrada, Nosellari, Lavarone, Lusérn, Brancafora und Casotto gegründet würden.17
In Lusérn, wie in S. Sebastiano, hatte sich das Zimbrische rein erhalten, was den aus Eppan stammenden Pfarrer Zuchristian anspornte, sich um die Erhaltung dieser Sprache zu bemühen.
So erteilte Zuchristian in Lusérn ab 1866, abgesehen von den Religionsstunden, den Unterricht auf Deutsch. Der Pfarrer bemühte sich außerdem durch Involvierung namhafter Gelehrter wie Zingerle und Schmeller, auf diesen Dialekt aufmerksam zu machen.18
Im Fersental tauchten in den Jahren 1878 und 1879 die ersten deutschen Volksschulen auf, und zwar in Garait/Frassilongo, Oachleit/Roveda, Sankt Felix/S. Felice und Vlarotz/Fierozzo. Die Auswirkung in diesem Tal, das von Nachfahren alter, aus dem Norden stammender Bergleute bevölkert war, muss stark gewesen sein, wenn der Präsident der Lega, Tambosi, 1907 über das nahezu völlige Verschwinden des italienischen Elements aus Garait/Frassilongo und Vlarotz/Fierozzo klagte; außerdem scheint in einer Aufstellung der Lega von 1910 keine italienische Abend- oder Nähschule im Fersental auf.
Andernorts war der nationale Kampf heftiger und durch häufigere Zwischenfälle gekennzeichnet.19 In Folgaria verhinderte 1912 die lokale Niederlassung der Lega Nazionale, die als getrennter Zirkel der Pro Patria am 29. Juni 1886 entstanden war, unter Ausübung von Druck auf die Gemeindebehörden die Eröffnung einer Volksschule des Volksbundes. Dieser wich auf den Kindergarten und die Handarbeitsschule aus, wie es die italienischen Konkurrenten einige Jahre vorher getan hatten (in der italienischen Handarbeitsschule war eine Strumpfwirkerei eingerichtet worden, die ihre Produkte in den Geschäften verkaufte).20
In S. Sebastiano und Lusérn, den beiden wahren Sprachinseln der Hochebene, waren die Dinge noch komplizierter. Die deutsche Volksschule entstand in S. Sebastiano bereits 1874; im Zuge der pangermanistischen Tätigkeit wurde auch auf Ersetzung des italienischen Seelsorgers gedrängt. Sobald der Sitz der Pro Patria im nahen Folgaria geschaffen war, erfolgte die Reaktion der Gegenseite, worauf diese Schule – nicht ohne Protest – geschlossen wurde (möglicherweise widerfuhr der Schule von Lavarone ein ähnliches Los) und ein neuer italienischsprachiger Seelsorger eingesetzt wurde. Es handelte sich um einen bloß vorübergehenden Waffenstillstand: 1905 entfesselte sich die massive Offensive des Volksbundes und Schulvereins. Es wurde ein Abendkurs für die deutsche Sprache eingeführt und für die Errichtung eines Schulgebäudes ein Grundstück im Ort erworben; es entstanden ein Kindergarten, eine Raiffeisenkasse, ein Konsumverein, wonach schließlich der Volksbund versuchte, die Sympathie der deutschfreundlichen Familien (denen regelmäßig die Zeitschrift »Tiroler Wehr« zugesandt wurde) dadurch zu gewinnen, dass er die Hälfte der Schulden beglich, die diese für den Bau der neuen Kirche eingegangen waren.21
Die Lega blieb nicht untätig, sondern reagierte sofort durch den Ankauf der Mauern der alten Kirche, um einen Kindergarten zu schaffen. Außerdem führte sie Abendkurse ein, gründete auf Betreiben der Gräfin Sardagna eine Schule und Werkstatt für Venezianer Klöppelspitzen (1905), eine Schule für Analphabeten, die jene für die Hirten ersetzte und bot sich an, die Schulden anstelle des Volksbundes selbst zu tilgen.22
Ähnlich war die Lage in Lusérn. Die Pro Patria baute im Jahr 1888 eine eigene Volksschule und benannte sie nach Pasquale Billari, dem Präsidenten der Dante Alighieri. In der Folge entwickelten sich eine Abendschule (eine auch in Masetti), ein Kindergarten und eine Schneiderschule.
Der deutsche Teil verfügte dank der Schenkung des von Biegeleben bereits über eine Volksschule, die später vom Schulverein subventioniert wurde, doch entstanden auch ein Kindergarten (1893) und eine Schneiderschule, die sich aufgrund der angewandten Klöppeltechnik, einer Art Stickerei, einen Namen schuf.23
Hinter den statistischen Daten verbirgt sich eine Situation, die bisweilen normalen Umständen entsprach, bisweilen dramatisch war. War es allein Nationalismus und Patriotismus, der die Eltern veranlasste, die Kinder in die eine oder die andere Schule zu schicken?
Nein, oder zumindest nicht nur: Die Wahrheit ist sicher prosaischer.
In einigen Fällen war es einfach eine Angelegenheit der Entfernung, was für ein Wirtschaftssystem, das sich auf die Berghöfe stützte, verständlich ist. Larcher geht in seinem Buch auf die italienische Schule von Costa ein, auf die die Familienoberhäupter des Ortes wegen der Entfernung von Folgaria drängten; im Falle einer Ablehnung waren sie bereit, sich an den Volksbund zu wenden.24
In anderen Fällen bildeten Versprechungen das Zünglein an der Waage: von wiederkehrenden Geschenken über Geldangebote bis zu Gratisunterricht und Gratisausspeisung.
Der Volksbund – unterstützt von Gesellschaften, die zur Zahlung beträchtlicher Summen bereit waren – zögerte nicht, in die Kirche S. Sebastiano zu investieren.
In den meisten Fällen jedoch waren die Aussichten auf einen Arbeitsplatz ausschlaggebend. Natürlich lag durch die Schneiderschulen ein direktes Arbeitsangebot für Frauen vor, doch war die Beschäftigung insgesamt mehr an saisonbedingte Abwanderung gebunden. Bergleute, Steinmetze, Maurer und Wanderhändler (aus dem Fersental) verließen Frauen und Kinder alljährlich, um deutsche Regionen wie Tirol, Vorarlberg, Westfalen oder Bayern aufzusuchen und sich dort nach Arbeit umzusehen. Die Sprachinseln gehörten zu den ärmsten Zonen des Trentino, da die Landwirtschaft nur das Überleben sicherte und unter Zersplitterung und chronischem Mangel an Ersparnissen litt, weshalb die Bevölkerung zur Auswanderung gezwungen war, um die ungenügende Deckung des Nahrungsbedarfs wettzumachen.25
Diese ständigen Kontakte zur deutschen Welt erleichterten mit anderen Worten das Überleben der zimbrischen Sprache. So erklären sich einige sonst unverständliche Faktoren. Nicht selten besuchten zum Beispiel dieselben Kinder beide Schulen, während einige Stunden der italienischen Abendkurse, an denen auch Erwachsene teilnahmen, dem Deutschunterricht gewidmet waren. Vor dem Hintergrund dieser Situation äußern folgende Zeilen eine kurzsichtige Haltung jener Zeit:

»Es ist höchst erfreulich zu sehen, dass die Besucher des verhassten Hauses (des Volksbundes, Anmerkung von F. Larcher) den niederen sozialen Schichten angehören (…)«.26 Für viele ging es mehr um eine realistische als um eine emotionale Wertung. Als Folge dieses Kulturkampfes machte sich – wie aus Betrachtungen jener Zeit erkennbar wird – eine allgemeine Verwirrung und Entfremdung unter den Kindern breit, die zu Hause gewohnt waren, Slambròt zu sprechen, und gezwungen wurden, womöglich abwechselnd oder nur oberflächlich Deutsch und Italienisch zu lernen. Auf Vereinsebene zeigte der Nationalismus auch wirtschaftliche Aspekte. Der Ankauf von Land, die Finanzierungen, die Einführung nationaler Produkte, die Einrichtung von Raiffeisenkassen und Genossenschaften waren wertvolle Waffen für eine Durchdringung in Gebieten, die aus sogenannten kulturellen und sprachlichen Gründen italienisiert oder germanisiert werden sollten.
Der Tourismus als Industrie der Gästeaufnahme, die damals ihre ersten Schritte unternahm, bekam dieses gespannte Klima zu spüren: Man denke bloß daran, dass sich die beiden Hotels von Lusérn »Andreas Hofer« und »Nazionale« nannten und dass in Lavarone, als sich der Krieg näherte, die italienischen Gäste Gegenstand von Provokationen waren und ständig überwacht wurden.
Es gab jedoch weit schlimmere Konsequenzen. Der nationalistische Kampf schuf Trennungen, Rivalitäten und Zerwürfnisse, die die Gemüter erhitzten. 1907 beschlossen hohe Vertreter des Volksbundes einen Besuch der deutschen Inseln im Trentino: Battisti überliefert uns, was sich damals zutrug:
»Nachdem jene Ausflügler provokatorisch einen großen Teil des Trentino durchstreift hatten und nach Pergine gelangt waren (ein Saal in der Burg Persen war Martin Luther gewidmet27, A. d. A.), versprachen sie angesichts einer feindlichen Kundgebung der Bevölkerung, nach Hause zurückzukehren und die Fahrt abzubrechen. Sie hielten jedoch ihr gegebenes Wort nicht und begaben sich nach Lavarone und Folgaria, wo die Behörden ihnen rieten, rasch nach Calliano hinunterzufahren, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden. In Calliano wurden die Pangermanisten zur Zielscheibe einer gewalttätigen Demonstration durch die Ortsbevölkerung und vieler, die aus Rovereto herbeigeeilt waren. Diesen Ereignissen folgte in Rovereto ein langer Prozess gegen zweiundvierzig Bürger, die freigesprochen oder zu leichten Strafen verurteilt wurden«.28 Die schlimmsten Auseinandersetzungen wurden jedoch auf Ortsebene geschürt, wofür zahlreiche Beispiele vorliegen: von der Parteiergreifung mancher Priester und ihrer gewaltsamen Ersetzung, hin über Einschüchterungsversuche (in Lusérn wurde manchen gedroht, sie würden bei weiterem Besuch der italienischen Abendkurse ihren Arbeitsplatz auf den Baustellen des Festungswerks verlieren29) bis zum Boykott und zu anonymen Drohungen.30 In Lusérn müssen die Zerwürfnisse besonders stark gewesen sein,a auch nach dem schrecklichen Brand vom 9. August 1911 die beiden gegnerischen Seiten beim Wiederaufbau lieber in Konkurrenz zueinander, statt in Zusammenarbeit vorgingen31.
Mit dem Krieg wurde ein Höhepunkt des Streites erreicht. Der Volksbund bezichtigte zahlreiche Angehörige oder Sympathisanten der Lega Nazionale des Irredentismus und drängte sie, von den Lehrerinnen bis zum Bischof Endrici, in die politische Verbannung. Nach Caporetto legte er seine Maske ab und erklärte die feste Absicht, das Trentino ganz zu germanisieren. Doch auch die Italiener verhielten sich nach dem Endsieg nicht besser. Obwohl offizielle Proklamationen die Unantastbarkeit der deutschen Nationalität gewährleisten sollten, waren Ereignisse wie die ungerechtfertigte Vertreibung von H.H. Pardatscher von Lusérn im Jahr 191932an der Tagesordnung.
Die Situation war tragisch und erschöpfte sich keineswegs in der Nachkriegszeit; sie keimte in den Zwanzigerjahren auf und gipfelte schließlich im Drama der Option.
»(…) Was alle nationalen Schulen gemeinsam vollbracht, zählte nicht; nur die Siege der eigenen Schule über die fremde wurden stolz in die Annalen der nationalen Selbstbehauptung eingeschrieben (…).
Insgesamt gesehen war der von den bürgerlichen Generalstäben des ‘nationalen Totalitarismus’ dirigierte Schulkrieg nicht nur negativ, wenngleich er nicht wenig zur Zerstörung alter, gewachsener Nachbarschaften und zum Verlust des übernationalen Kommunikationsvermögens beigetragen hat.«33

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1 C. Gatterer, Italiani maledetti, maledetti austriaci. L'inimicizia ereditaria, Trento, Praxis 3, 1987
2 A. May, La monarchia asburgica, Bologna, Il Mulino, 1973 und C. A. Macartney, L'impero degli Asburgo, Milano, Garzanti 1981
3 Q. Antonelli (Hg.), A scuola! A scuola!, Trento, Museo storico in Trento onlus 2001
4 Eine interessante Aufzählung dieser deutschen und italienischen Veröffentlichungen bietet der Beitrag von Corsini in G. B. Pellegrini und M. Gretter (Hg.), la vall del Férsina e le isole linguistiche di origine tedesca nel Trentino, Museo degli Usi e Costumi della Gente trentina di S. Michele all'Adige (TN), 1979
5 Aufsatz von Benvenuti in Q. Antonelli (Hg.), a.a.O.
6 Aufsatz von Benvenuti in Q. Antonelli (Hg.), a.a.O.
7 S. Benvenuti, la chiesa trentina e la questione nazionale, Trento, Museo Trentino del Risorgimento e della lotta per la libertà 1987
8 Aufsatz von Benvenuti in Q. Antonelli (Hg.), a.a.O.
9 R. Monteleone, Il movimento socialista nel Trentino, Roma, Editori Riuniti 1971
10 Museo Storico di Trento, Archivio Lotta Nazionale 1870 - 1914, Mappe E/28, Fasz. S (Geheimbünde), Akt Nr. 5
11. S. Benvenuti, a.a.O.
12 A. Canavero e A. Moioli (Hg.), de Gasperi e il Trentino tra la fine dell'800 e il primo dopoguerra, Luigi Reverdito Editore 1985
13 C. Battista, Guida dell'Altopiano di Folgeria e Lavarone, Ristampa anastatica, Trento, Edizione Novecento 2000
14 Aufsatz von Benvenuti, a.a.O.
15 C. B. Pellegrini und M. Gretter (Hg.), op cit und W. Baum, Storia dei Cimbri, Landshut, Curatorium Cimbricum Bavarense 1983
16 Museo Storico di Trento, Archivio Lotta Nazionale 1870 - 1914, Mappe E/28, Fasz. S (Geheimbünde), Akt Nr. 61 vom 19.9.1889
17 E. Rech, La scuola di S. Sebastiano e l'opera svolta dalla "ProPatria" e dalla "Lega Nazionale", Rovereto, Tipografia roveretana 1931
18 Luserna racconta ... Luserna (TN), Associazione culturale "Kulturverein Lusérn" 1999
19 Aufsatz von Benvenuti, a.a.O.
20 F. Larcher, Folgeria magnifica comunità, Folgeria (TN), Comune di Folgeria 1995
21 E. Rech, a.a.O.
22 E. Rech, a.a.O.
23 A. Nicolussi Moz, Luserna terra di uomini liberi, Luserna (TN), ed Osiride 2001
24 F. Larcher, a.a.O.
25 C. Prezzi, Partir bisogna. Economica e storia di Luserna fra Ottocento e Novecento, Luserna (TN), Dokumentationszentrum Lusérn 2001
26 F. Larcher, a.a.O.
27 C. Gatterer, a.a.O.
28 C. Battista, a.a.O.
29 A. Nicolussi Moz, a.a.O.
30 E. Rech, a.a.O.
31 A. Nicolussi Moz, a.a.O.
32 Luserna racconta ...., a.a.O.
33 C. Gatterer, a.a.O.

DIE GEMEINSCHAFT VON LUSÉRN IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT

Lusérn-Luserna: Dorfplatz und Rathaus

Lusérn-Luserna: Dorfplatz und Rathaus

Das Leben auf der Hochebene verlief damals ruhig, die Bevölkerung lebte genügsam, in vielen Fällen ärmlich, weshalb oft die Auswanderung die einzige Chance für eine bessere Existenz war. Die Grenze zog sich durch einen Teil des Gebietes, wobei der Verlauf in Rom und Wien langwierige Debatten um den Besitz von Cima Dodici oder Cima Man- driolo ergab. Die Bevölkerung war im Grunde nicht an diesen strategischen Details interessiert, sondern höchstens voll beschäftigt mit einem blühenden Schwarzhandel mit den Trentinern des Val Sugana oder der Hochebene von Lavarone.1
So beschrieb Don Andrea Grandotto, Pfarrer von Cesuna (einem Ort unweit von Lusérn, auf der Hochebene von Asiago jenseits der früheren Grenze zum Königreich Italien), das Leben in diesen Zonen zu Beginn des 20. Jh.
Wie in Cesuna schien auch in Lusérn alles im gewohnten Rhythmus zu verlaufen: In der schönen Jahreszeit zogen die Männer fort, um erst im Spätherbst wieder nach Hause zurückzukehren, die Frauen blieben im Ort und beschäftigten sich mit der Familie und dem wenigen, was das Land ihnen bot. Wenn im Winter das Wetter den Großteil der Arbeit unterband, fanden die Frauen ein bescheidenes Einkommen durch die Erzeugung von Spitzen und Klöppelarbeiten, wofür 1882 eine eigene Schule gegründet worden war.
Wie Don Grandotto bezeugt, wurde zwischen den Orten beiderseits der Grenze reger Schmuggelhandel betrieben: Aus mündlichen Quellen wissen wir, dass hier, seit Venetien 1866 zum Königreich Italien gekommen und die Hochebene durch eine Grenze geteilt worden war, illegal Waren wie Tabak, Zucker und Spirituosen befördert wurden, was für die Schmuggler eine beachtliche Einkommensquelle bedeutete.
Das ruhige Leben jener Jahre änderte sich, als die stärker werdende diplomatische Krise zwischen dem Königreich Italien und Österreich-Ungarn die Stabilität und die Möglichkeit einer dauerhaften Ruhe in Frage stellte. Die Situation war bereits die eines bewaffneten Friedens, und beide Staaten waren sich der Möglichkeit eines Krieges bewusst.
Ab 1860 wurden in knapp über fünfzig Jahren die Grenzen und strategischen Punkte des Trentino durch den Bau von Wehranlagen einer intensiven militärischen Befestigungsarbeit unterzogen, bis die Gegend zu den bestbewaffneten Zonen Europas gehörte.
Bereits in den frühen Jahren des 19. Jh. hatten sich die Österreicher im Anschluss an die napoleonischen Feldzüge darangemacht, die Hauptzugangswege zum Kaiserreich zu stärken: Es entstanden komplexe Festungsbauten im Etschtal, in Rivoli und nördlich von Verona. Ab Mitte des 19. Jh. hatten zahlreiche feindliche Überfälle Österreich die möglichen Linien eines Angriffs durch das Etschtal, das Rückgrat der Region, erkennen lassen.
Unter der anfänglichen Leitung des Generals Franz Kuhn erfolgte die erste von drei Phasen einer Steigerung der Trentiner Verteidigungsfähigkeit durch den Bau von Festungswerken und Straßensperren2. Von Beginn an wurden die Zonen oberes Val di Sole, Judikarien und oberes Gardaseegebiet befestigt.
In den zwanzig Jahren von 1876 bis 1895 galt das Hauptaugenmerk den Festungsbauten der Stadt Trient und der Errichtung von etwa zwanzig kleineren Forts längs der Ostgrenze der Provinz.
Die dritte und letzte Phase, von 1900 bis zum Ausbruch der Feindseligkeiten mit Italien, wurde vom Strategen Franz Konrad von Hötzendorf geleitet. Die neuen Festungen verkörperten den Glanz der Militärtechnik jener Zeit. Die Befestigungen waren (bis auf wenige Ausnahmen) ganz aus Beton, in den Stahlträger eingesetzt wurden, deren Verkleidungen auch mehr als drei Meter Dicke erreichten. Jedes der Festungswerke wies Beobachtungstürme und drehbare Panzertürme (aus Stahl) von 25 cm Dicke auf, die Haubitzen und Kanonen für die Nahverteidigung aufnehmen konnten.
Zwischen 1908 und 1914 entstanden auf der Hochebene, die sich von Folgaria nach Lusérn-Vezzena erstreckt, sieben mächtige Forts, die jeweils bis zu zweihundert Soldaten aufnehmen konnten und imstande waren, das Trentino an einer der Stellen zu verteidigen, an denen ein Durchbruch der italienischen Truppen am wahrscheinlichsten war.
In der Nähe von Lusérn wurden das Fort Lusérn auf einer Anhöhe über dem Ort auf 1549 m, das Fort Verle auf 1545 m und der befestigte Beobachtungsstand von Cima Vezzena auf 1908 m errichtet. Ende des Jahres 1904 erwarb das K.u.K.-Kriegsministerium von der Familie Colpi – bis dahin Eigentümerin der Liegenschaften von Cima Campo – den Grund für die Errichtung des Forts Lusérn, für das die Baugenehmigung am 31. Jänner 1905 erteilt wurde.3
Verglichen mit anderen Festungen, die immerhin auch von beachtlicher Größe waren, zählte die von Lusérn mit über 200.000 m3 und zwei gepanzerten Vorposten, bei Kosten von über zwei Millionen österreichischen Kronen, unbestritten zu den größten und mächtigsten der Linie.4
Der Bevölkerung von Lusérn bot der Bau der Anlage zweifellos gute Einkommensmöglichkeiten.
Wie auch aus mündlichen Quellen hervorgeht, fehlte es in der Zeit des Festungsbaus – vom 15. Juli 1908 bis zum 20. Oktober 1912 – nicht an Beschäftigungsmöglichkeiten im Ort. Alle – Männer und Frauen – waren am Bau beteiligt: Die Männer wurden für die schwereren Arbeiten eingesetzt, wie den Erdaushub für das Fundament, den Bau einiger Kilometer Straße – wobei die Zufahrtstraße alleine ca. 2 km lang war – und Infrastrukturen verschiedener Art, z.B. Barackenlager und kleine Kasernen, sowie für den eigentlichen Festungsbau. Die Frauen waren in erster Linie für die Lebensmittelversorgung und die Beschaffung von Baumaterial und Wasser, das in Eimern getragen wurde, verantwortlich.
Über vier Jahre lang war die lokale Wirtschaft eng mit der Errichtung dieser riesigen Kriegsanlagen verbunden. Wenngleich die Vorbereitungen für den Ersten Weltkrieg einen bloß vorübergehenden Wirtschaftsaufschwung bedeuteten, der sich schon bald zu Ungunsten der Lokalbevölkerung wenden sollte, brachte die Arbeit doch einen gewissen Grad an Wohlstand.
Im Mai 1915 war von einem Augenblick zum anderen die Kriegserklärung zu erwarten, die den Konflikt zwischen dem Königreich Italien und der Österreichisch-ungarischen Monarchie eröffnen sollte. Die Zeit war reif, und auch die Bevölkerung spürte die Spannung in der Luft. In den zehn Tagen vor dem 23. Mai sandte das Kommando mehrmals Luserner zur Erkundung über die Grenze: Die Würfel waren gefallen, und im Val d’Astico, wie auch andernorts, wurden bereits Maultiere und Kanonen aufgereiht. Von jenen Tagen zeugen die Schriften von Josef Pardatscher, dem Pfarrer von Lusérn und späteren Feldkaplan.5
»Gegen halb 4 Uhr Früh am 25. Mai, Pfingstdienstag, begannen die Kanonen zu donnern. Die Festungen beschossen sich gegenseitig: die unseren und die auf der anderen Seite; Monte Verena und Campolongo (Haspelknott). Das Dröhnen wurde zunehmend lauter. Die Granaten pfiffen über die Ortschaft Lusérn hinweg. Die Folge: allgemeines Durcheinander. Um sechs Uhr ging ich zum Altar, um die Messe zu zelebrieren. Sobald ich die Kniebeuge gemacht hatte, um dann die Altarstufen hinauf zu steigen, erfolgte eine heftige Explosion: das Fenster des Chorraumes klirrte und die Glasstücke fielen zu meinen Füßen nieder. Weitere Granaten schlugen im Ort ein. Es waren zwei Verwundete zu beklagen: Katharina verwitwete Nicolussi Galeno mit einer Oberschenkelverletzung durch Granatsplitter; die sechzehnjährige Berta Nicolussi Zatta wurde mit schweren Bauchverletzungen ins Pfarrhaus gebracht und auf die Treppenstufen gelegt. Ich erteilte ihr die Absolution und gab ihr die Letzte Ölung; sie starb am 31. Mai in Trient.
Die Bevölkerung wurde Opfer einer unbeschreiblichen aber verständlichen Panik: Weinen, Schreien, Klagen von Kindern und Frauen. Die Menschen sammelten rasch Wäsche- und Kleidungsstücke zusammen, die sie finden konnten, wickelten sie hastig in Tücher oder verstauten sie im Rucksack und flohen, so rasch sie konnten«.
Zurück blieben auf der Hochebene die 53 Männer der Landwehr – überwiegend junge (16–18 Jahre) und noch taugliche ältere (50–60 Jahre), die Standschützen-Kompanie Lusérn unter der Führung von Hauptmann Michele Pedrazza und einige Arbeiter, die für die Instandhaltung der Festungen zuständig waren.6
Frauen, alte Menschen und Kinder verließen zu Fuß oder mit Behelfsmitteln den Ort und zogen auf der Fahrstraße nach Monte Rovere. Am Spiazzo Alto von Monte Rovere angekommen, wurden die wenigen Gepäckstücke auf die Materialseilbahn verladen, die die Soldaten für die Versorgung vom Valsugana aus gebaut hatten; über den Saumpfad Menador (Laas) erreichten die Flüchtlinge den Bahnhof von Caldonazzo. Mit dem Zug fuhren sie nach Trient und von dort nach Innsbruck. In der Landeshauptstadt begab sich der Bürgermeister Kostantin Nicolussi Anzolon zur Landesstatthalterschaft, um Anweisungen und Informationen über den Ort einzuholen, der zur Ansiedlung der Luserner bestimmt war. Die Anordnung lautete: weiterfahren bis Aussig in Nordböhmen. Die Reise dauerte lange, auch da der Zug, auf dem sich die Flüchtlinge befanden, den für die Front bestimmten Militärkonvois den Vorrang geben musste. Die Luserner langten erst nach drei Tagen Reise, die sie zusammengepfercht in den Güterwagen verbracht hatten, am Bestimmungsort ein.
Die müden und erschöpften Flüchtlinge wurden vorübergehend in einer großen Halle untergebracht, die ihnen die Lokalverwaltung zur Verfügung stellte.7 Danach wurde die Gruppe aufgeteilt und verschiedenen Orten des Bezirks zugewiesen.
Das Geburtenregister ist zwar eine beschränkte Quelle8, doch können wir ihm zumindest einen Teil der Gemeinschaften entnehmen, in denen Luserner lebten. Aus dieser Quelle9 geht hervor, dass sich von 42 im Exil Geborenen 7 in Prödlitz, 5 in Wittlitz, 4 in den Orten Mosern, Schönfeld, Modlan und Schrekkenstein, 3 in Wittal, in Nestovitz und in Schvaden, 2 in Obersedlitz und je 1 in Grösstschockan und in Grospriesen befanden. Es scheint auch auf, dass einer in Braunau, nördlich von Salzburg, zur Welt kam. Francesco Nicolussi Paolaz gab in einem Gespräch mit Diego Nicolussi Paolaz an10, dass er in Peterschwarz untergebracht worden war.
Wenngleich unter Schwierigkeiten, so fand doch jede Familie aus Lusérn Unterkunft: Die glücklichsten erhielten eine Wohnung allein für sich, manche mussten mit anderen zusammenleben.
In den drei Jahren, in denen sie fern von zu Hause waren, hatten sie mit genügend Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Älteren berichten, dass die Menschen, die im Kanonenfeuer losgezogen waren, nur die wenigen Dinge mit sich genommen hatten, die sie in der Eile in ihren Wohnungen zusammenraffen konnten. Von Anfang an bestand Mangel an Kleidung: Hier schufen die Behörden durch eine Kleidersammlung Abhilfe. Es herrschte große Armut; überall erhielten die Menschen nur kärgliche Lebensmittel. Erst später wandte sich die Lage zum Besseren: Die Fabriken der Gegend – die einen großen Teil ihrer männlichen Arbeitskräfte verloren hatten – nahmen immer mehr Frauen auf. Die vorrangigen Beschäftigungszweige waren die Lebensmittelproduktion, speziell die Zuckerraffination, und die Erzeugung von Schuhen und Stiefeln.11 Die Situation blieb aber in jedem Fall schwierig.
Die traurige Erfahrung der Flüchtlinge dauerte dreieinhalb Jahre – erst im Jänner 1919 konnten sie die Rückreise in die Heimat antreten. Am 19. Jänner langten die Luserner in Trient ein, wo sie ca. drei Wochen blieben.12 In der Trentiner Hauptstadt erhielten sie die Lebensmittel, die den Familien in der Zeit der Wiederansiedlung zur Bedarfsdeckung dienten. Wie im Frühjahr 1915 kamen sie – dieses Mal jedoch aus der anderen Richtung – in Caldonazzo an, wonach sie auf der Militärstraße Monte Rovere und Lusérn erreichten. Während der Abwesenheit der Luserner hatten sich in diesem Abschnitt der italienisch-österreichischen Grenze erbitterte Kämpfe zugetragen, die zu den blutigsten des Ersten Weltkriegs zählten.
Bereits in den ersten Kriegstagen, dann bis zur Strafexpedition (Maioffensive 1916), durch welche die Kriegsfront von Lusérn weg verlagert wurde, musste die Hochebene ein heftiges Bombardement, in erster Linie durch die schweren Geschütze hinnehmen, die bei der Feste Campomolom (auf 1853 m Höhe auf der Hochebene von Tonezza – Fiorentini), bei Campolongo (auf 1720 m Höhe, östlicher Fortsatz der Hochebene von Asiago) und bei Porta Manazzo aufgestellt waren.
Aus dem technischen Blatt der Feste Lusern13 geht hervor, dass vom 24. Mai 1915 bis zum 20. Mai 1916 725 Schüsse von 30,5-cm-Mörsern, 5.463 von 28-cm-Kanonen und 8.480 von 14,9-cm-Kanonen abgegangen waren. Tonnen von Stahl, Gusseisen und Blei waren auf ein wenige Quadratkilometer großes Gebiet niedergegangen.
Viele der auf die Festung gerichteten Schüsse verfehlten das Ziel, und die unglaubliche Nähe zum Wohnort erwies sich nun als Unglück. Die Flüchtlinge fanden bei ihrer Rückkehr in den Ort nur noch einen Schutthaufen vor: Ein Großteil der Häuser hatte kein Dach mehr, von anderen war nur noch ein Stück Mauer übriggeblieben. Auch die Pfarrkirche, die sich in der Mitte des Hauptplatzes befand, war aufgerissen, vom Kirchturm war fast nichts mehr vorhanden.
Selbst die wenigen Häuser, die durch sofortiges Reparieren der Dächer und Mauern erhalten hätten werden können, waren nach drei Jahren, in denen sie Regen und Schnee ausgesetzt waren, unbrauchbar. In manchen Fällen bestand die einzige Lösung darin, die alten Steine zu bergen und alles vom Keller ab neu aufzubauen. Außerdem zeigte die wirtschaftliche Situation des Trentino die unauslöschlichen Spuren dreier Kriegsjahre.
Das Italien der Nachkriegszeit sah sich vor zahlreiche Probleme einer Politik gestellt, die der Rettung des vom Krieg heimgesuchten Landes galt, wofür 1919 das Ministerium für die befreiten Gebiete eingerichtet wurde. Über ein Drittel des Trentiner Bodens war verwüstet; nach einer Schätzung von Calì14 belief sich der Gesamtschaden auf über zwei Milliarden zweihundert Millionen Lire.
Für die Sanierung in einem Zeitraum von fünf Jahren stellte die Regierung mehr als eine Milliarde Lire an Beihilfen bereit, womit sie wirksam zum Wiederaufbau in der Provinz beitrug. Die ersten, die Vorteile daraus schöpften, waren die Bauarbeiter, die lange Zeit in diesem Sektor Beschäftigung fanden.15
Die Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg bot den Arbeitskräften von Lusérn, die traditionsgemäß in diesem Sektor tätig waren, die Gelegenheit einer kontinuierlichen Arbeit, wie sie sich wohl kaum noch einmal ergeben würde: Eine große Schar Maurer konnte auf der Hochebene bleiben und an den zahlreichen Baustellen Dienst leisten, die die Arbeitsgenossenschaften eröffnet hatten.
Positiv wirkte sich die Bergung der Kriegsleichen und die Auflösung der provisorischen Soldatenfriedhöfe auf das Einkommen der Beschäftigten aus. Unmittelbar nach dem Krieg waren viele mit dem traurigen Transport der sterblichen Reste beschäftigt, die täglich in den alten Schützengräben und in den kleinen Tälern der Hochebene gefunden wurden: Nicht allen Gefallenen war ein würdiges Begräbnis beschieden gewesen. Obwohl diese Tätigkeit der Gesundheit nicht förderlich war, handelte es sich – auch mündlichen Quellen zufolge – um eine Zeit bescheidenen Wohlstands: Der Großteil der Männer hatte eine Arbeit, und die Wiederaufnahme der Tätigkeiten, die durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen worden waren, schien ohne Schwierigkeiten vonstatten zu gehen.
Auch auf gesamtstaatlicher Ebene zeigte die Wirtschaft unter der Führung des Ministers De Stefani nach anfänglicher Unsicherheit einen Aufwärtstrend.16 1925 kam es jedoch zu einem Stillstand. Durch die internationale Spekulation wurde ein besorgniserregender Inflationsprozess in Gang gesetzt. Um dem entgegenzuwirken, schlug Mussolini den gefährlichen Weg der Deflation ein. 1927 wurde die Reduzierung der Gehälter und Löhne beschlossen – eine Maßnahme, die besonders die Lohnempfänger traf.17

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Europa seine Rolle als Drehpunkt des politischen und wirtschaftlichen Lebens verloren: Mit dem Untergang Englands war die treibende Kraft der Weltwirtschaft nach Übersee verlagert worden. Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten, die sich auf eine betonte Freihandelslehre stützte – die den Markt als System von Kräften zur Sicherung eines autonomen Gleichgewichts ansah – schien die Gewähr für intensiven, dauerhaften Wohlstand zu sein. Die vertrauensvolle Haltung jener Jahre prallte jedoch schon bald mit der Realität zusammen. Die ersten zwanzig Jahre Krise zeigten sich im Agrarsektor: Die enormen Lagerbestände, die wegen der Wiederaufnahme der Produktion in den europäischen Ländern nicht verkauft wurden, ließen den Preis für Korn und viele andere Bedarfsartikel stürzen. Das schlug sich sofort auf das gesamte Produktionssystem nieder und bewirkte eine Krise.18
Das Ereignis, das die stärksten Auswirkungen haben sollte, trat erst am 29. Oktober 1929 ein: Infolge von Spekulationsmanövern kam es zum Börsenkrach von New York. In Windeseile verbreitete sich unter den Investoren eine kollektive Panik, die sie zum Verkauf ihrer Wertpapiere veranlasste, wodurch das System endgültig zusammenbrach. Die Auswirkungen des Wall-Street-Desasters machten sich schon bald auch im alten Kontinent bemerkbar. Die USA gingen, um zumindest einen Teil ihrer Industrie zu retten, den Weg des Protektionismus, verwehrten den ausländischen Produkten den Zu- gang und untergruben den internationalen Markt. Die Auswirkungen der Krise bekamen besonders jene Länder zu spüren, in denen der Wiederaufbau der Nachkriegszeit bis zu dem Zeitpunkt dank erheblicher Unterstützungsgelder aus den Vereinigten Staaten erfolgt war, an erster Stelle Deutschland und Österreich. Deutschland war außerdem wegen der Wiedergutmachungen der Kriegsschäden vom Verlauf der US-Wirtschaft abhängig.19
Italien war zwar weniger stark betroffen als Deutschland und Österreich, litt aber auch unter den katastrophalen Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die als eine der verheerendsten der Geschichte gilt.
Wie die Vereinigten Staaten verfolgte auch unser Land eine Politik der Importsperre und beschritt den Weg der Autarkie, eines Kampfes um die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Die Politik der faschistischen Regierung äußerte sich in deflationistischen Maßnahmen, die durch die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben und des Konsums erfolgten. Die Gehälter sanken um 12%, für die Nation begann eine lange Phase der Rezession. Im Trentino zeigten sich die ersten Auswirkungen der Krise erst 1931, doch in all ihrer Härte.20 Der Zusammenbruch der Wirtschaft war eine starke Bedrohung für alle Produktionssektoren, besonders aber für das private Bauwesen, das auf ein Viertel des gewohnten Volumens sank. Zu diesem gefährlichen Rückgang der lokalen Aufnahmekapazität von Arbeitskräften kamen die Einschränkungen der ausländischen Staaten bei der Annahme von Fremdarbeitern hinzu. Während 1930 die Emigranten mit voraussichtlichem Daueraufenthalt um 8000 lagen, wurden sie im Jahr darauf auf ein Drittel, dann in den darauffolgenden zwei Jahren erneut um die Hälfte reduziert.21
Eine Analyse der Daten über die Trentiner Arbeitslosigkeit in der Zeit 1927-1935, die monatlich im statistischen Anhang des Bollettino del Consiglio Provinciale dell’Economia (Amtsblatt des Landesrates für Wirtschaft) veröffentlicht wurden, liefert reichhaltige Informationen über die wirtschaftliche und soziale Lage der Provinz.
Von einer erkennbaren, doch noch bescheidenen Arbeitslosigkeit der drei Jahre 1927-29 kam es nach 1930 zu ihrer Verstärkung22.
Besonders im Winter – wenn ein Großteil der im Freien durchgeführten Arbeiten notgedrungen stillstehen mussten – waren hohe Arbeitslosenzahlen zu verzeichnen.
Eine Spitze ergab sich mit 16.000 Beschäftigungslosen im Jänner 1934.
Abweichend davon trat im Bausektor und in den angeschlossenen Bereichen im Winter 1932 mit fast 7000 Beschäftigungslosen die größte Arbeitslosigkeit ein.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Trentiner Bevölkerung laut Volkszählung von 1931 390.000 Einwohner zählte, war die Situation äußerst schwierig.
Als Belege der speziellen Lage von Lusérn dienen Unterlagen des Gemeindearchivs, die für die drei Jahre 1932–34 gefunden wurden.
Es sticht sofort die Zusammenstellung der Arbeitslosen nach Berufsgruppen ins Auge: ca. neun Zehntel gehörten dem Bausektor an (Maurer, Handlanger, Pflasterer, Marmorsteinmetze usw.). Wenn wir schlechthin annehmen, dass der Stand der Arbeitslosigkeit für alle Berufsgruppen gleich war, zeigt sich das klare Überwiegen dieser Berufe über die anderen.
Der zweite, hier vielleicht wichtigste Aspekt betrifft den zahlenmäßigen Bestand der Arbeitslosen: Wenngleich die Angabe des prozentuellen Verhältnisses zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten nicht möglich ist, da keine Analyse der Bevölkerung nach Altersgruppen vorgenommen werden kann, scheint die Arbeitslosenrate doch sehr hoch zu sein.
Im Oktober 1933 kamen, trotz der ersten Anzeichen eines Wiederaufschwungs auf Landesebene, 135 Beschäftigungslose auf eine Bevölkerung von knapp über 850.
Die Situation wird dadurch noch zugespitzt, dass in der untersuchten historischen Phase (1932-34) wegen des starken Anstiegs der Geburtenzahlen der Nachkriegszeit (1920-24) wahrscheinlich eine sehr junge Bevölkerung mit einem starken Anteil von Personen vorlag, die noch mit keiner Arbeit begonnen hatten. Dieser Faktor senkt den Prozentsatz der Arbeitskraft gegenüber der Gesamtzahl der Bevölkerung, wodurch gleichzeitig der prozentuelle Anteil der Arbeitslosen steigt.
Auch mündlichen Quellen zufolge zeichnete sich die Zeit nach 1930 durch eine schwere Krise aus; einige Befragte sprachen sogar von Unterhaltsschwierigkeiten aufgrund der extremen Knappheit an Grundnahrungsmitteln.
Trotz einer Regierungspolitik, die auf Einhaltung der Lebenskosten abzielte, waren die wichtigsten Nahrungsmittel auch für solche Familien kostspielig, in denen das Arbeitseinkommen nicht weggefallen war. Wie Piccoli bemerkt, waren die Löhne stark gesunken (in einigen Fällen bis um 40%, demgegenüber aber keine entsprechende Preisreduzierung).23 Bereits Ende 1932 musste ein Maurer mehr als viereinhalb Stunden arbeiten, um einen Kilo Butter kaufen zu können, und fast sechs Stunden für dieselbe Menge Käse.24

Nach einer bescheidenen Phase des Wiederaufschwungs im Jahr 1936 machte nun die Bauindustrie wieder eine Krise durch, die man bereits überwunden geglaubt hatte. Die autarke Politik der Regierung hatte dem Trentino mehr als anderen Regionen geschadet: Durch den Stopp des Warenaustausches mit dem Ausland wurde die Wirtschaft der Provinz ins Herz getroffen.
Bei dem Entschluss für die wirtschaftliche Autarkie der Nation hatte sich die Regierung bezüglich der reellen Möglichkeiten, eine große Zahl von Produktionsmängeln selbst ausgleichen zu können, verschätzt: Während zur Deckung des Mangels an bestimmten Nahrungsmitteln Produktionsumstellungen erfolgten oder Kampagnen wie der »Kornkampf« durchgeführt wurden, waren die Probleme auf industrieller Ebene größer. Italien, gegen das sich wegen der Kolonialpolitik in Ostafrika die Sanktionen des Völkerbundes vom 7. November 1935 richteten, musste mit der geringen Verfügbarkeit von Mineralien auf dem Nationalgebiet fertig werden. Es war nicht das erste Mal, dass sich dieser Mangel bemerkbar machte: Bereits während der Vorbereitungen zum Ersten Welt- krieg hatte sich Italien gezwungen gesehen, von anderen Staaten einen großen Teil des benötigten Kriegsmaterials zu erwerben.25
Um den zunehmenden Erfordernissen der Industrie Herr zu werden, begannen auch im Trentino neue Kampagnen der Mineraliensuche, die vor allem das Valsugana und das Val di Sole betrafen. In Aussicht auf Eröffnung eines Bezirks metallverarbeitender Industrie in den Außenbezirken der Stadt Trient wurde viel in die Anlegung von Magnetit- und Lignitbergwerken in Pejo und Civaron investiert.26
Paradoxerweise profitierten die Bergzonen an der einstigen Front des Ersten Weltkriegs von der internationalen Handelssperre und vom Mangel an Rohmaterial: Der Krieg hatte nicht nur Zerstörung hinter sich gelassen, sondern auch riesige Mengen an Kriegsschrott. Wie Vigilio Pedrazza in einem Artikel in »Identità« schreibt, in dem er auf das Bergen von Eisenmaterial eingeht, »fand die Bevölkerung der Grenzzonen, insbesondere die von Lusérn, die wegen der Nähe zu Festungen und zur Front mehr als andere vom Feuer der Artillerie gepeinigt worden war, die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Erholung durch die Ausbeutung des Schutts, den eben der Krieg bewirkt hatte.«27
Die ersten Maßnahmen begannen Anfang 1935 in den Zonen von Passo Vezzena. Da die Gemeinde im Sammeln der Trümmer eine mögliche Reserve für Zeiten schwerer Arbeitslosigkeit sah, erwarb sie am 3. Juni 1935 die einstige K.u.K.-Festung Cima Campo (Werk Lusérn)28, um das darin befindliche Eisen zu bergen.
Die Feste wurde vom Unternehmen Mondini demoliert, das im Anschluss an die Genehmigung zur Sprengung der Minen vom 16. Juni29 mit den Abbrucharbeiten begann. Die Ausgrabung von Balken, Doppel-T-Eisen und Betoneisen erfolgte durch lokale Arbeiter. Parallel dazu entwickelte sich immer mehr die Tätigkeit des Sammelns von Geschossen und ihren Splittern im gesamten Raum der Hochebene. Mit einem Dekret vom 20. März 193030trat der Staat den einzelnen Gemeindeverwaltungen das Eigentumsrecht des Kriegsmaterials und des Kriegsschrotts ab, weshalb die Gemeinden die Lokalbevölkerung zur Ausbeutung dieser Ressourcen ermächtigen konnten. In Lusérn wurden alle, die es wünschten, zu den Grabungen ermächtigt – unter der Bedingung, dass das Terrain anschließend wieder instand gesetzt würde.31
Um den Kriegsschrott zu finden, suchte man nach Erhebungen, die durch die Einschläge entstanden waren und sondierte das Gelände mit Hilfe eines Eisenstabes, der den Penetrationswiderstand des Bodens anzeigte. Ein weicher Boden ließ darauf schließen, dass bereits eine Bergung des Kriegsmaterials erfolgt war. Dann begann der Aushub einer Grube von 3 m Durchmesser und 2–2,5 m Tiefe. Durchschnittlich erforderte die Einholung von Fragmenten eines Geschosses dieses Kalibers bis zu drei Tagen harter Arbeit, die den Beschäftigten 35–40 Lire brachte.32 Nach einer Rekonstruktion, die aufgrund von Gesprächen mit älteren Menschen erfolgte, gewann man aus einem 28-cm-Geschoss von ca. 250 kg neben dem Gusseisen mehr als ein Kilogramm wertvolle Kupferringe und ca. 5 Kilogramm Messing aus der Sprengkapsel.
Angesichts der noch herrschenden Krisensituation und der Tatsache, dass die Arbeitssaison eines Sammlers von Kriegsmaterial länger dauerte als die eines Maurers, war diese Tätigkeit relativ ertragreich, überdies konnten sowohl Frauen als auch Kinder für die weniger schwierigen Aufgaben eingesetzt werden. Die Frauen hatten die Aufgabe, den nach und nach zutage beförderten Schrott in den Ort zu transportieren, wo Sammelstellen eingerichtet waren. Die Kinder brachten hingegen den Erwachsenen das Mittagessen und lasen die Schrapnells auf (auf Zimbrisch plai-marmar), kleine Bleikugeln, die in den Infanterieabwehr-Geschossen eingeschlossen waren. Sie wurden zu ca.1 cm dicken Platten eingeschmolzen, was nicht gefahrlos war: Die aus dem glühenden Blei austretenden Dämpfe sind hochgiftig.
Das Gusseisen und die anderen Metalle wurden in erster Linie an einen gewissen Abalini von Mezzaselva di Roana (Hochebene von Asiago) und an den Schmied des Ortes verkauft, der Briata von Arsiero (in der Nähe von Thiene) belieferte. Zum Unterschied von diesem letzteren begab sich Abalini zum Sammeln des Schrotts an den Fundort. Wie viele Befragten bezeugen, gingen zu Zeiten intensivster Arbeit vom Hauptplatz des Ortes bis zu3 Fuhren Schrott am Tag ab.
Die Kehrseite der Medaille war das mit diesen Operationen verbundene hohe Risiko: Vor allem die Heimkehrer des Ersten Weltkriegs meinten, große Erfahrung mit Geschossen zu haben, und pflegten die nicht explodierten Bomben zu entleeren; wie mündliche Quellen bezeugen, taten sie dies oft ohne die geringsten Sicherheitsvorkehrungen.
Manche versuchten auch, die Bomben mit Vorschlaghammern zu öffnen; diese Unvorsichtigkeit forderte zahlreiche Verletzte und einen Toten.
Ein weiteres Ereignis, das in diesen Jahren die kleine zimbrische Gemeinschaft von Lusérn betraf, war mit den Militäroperationen verbunden, die die Regierung unter der Führung von Benito Mussolini auf afrikanischem Boden durchführte. In der Überzeugung, dass das Bündnis zwischen Italien und Frankreich, Großbritannien und Deutschland (der sogenannte Mussolini-Pakt), dessen Ziel eine friedliche Überarbeitung der Abkommen war, Italien die stillschweigende Unterstützung Frankreichs und des Vereinigten Königreichs sichern würde, erwog der Duce Mitte der Dreißigerjahre die Möglichkeit eines Angriffs auf Äthiopien – das letzte große, noch unabhängige afrikanische Land.33 Mit der Eroberung eines »Platzes an der Sonne« auch für Italien meinte die Regierung, neue Impulse für die italienische Wirtschaft zu setzen. Dieses Land sollte das Ziel zahlreicher Italiener sein, die sich wegen der Einschränkung der Emigration in die Vereinigten Staaten in einer unsicheren finanziellen Lage befanden. Außerdem hätte ein Sieg dem Regime im Vaterland größeren Konsens gebracht. Der am 3. Oktober 1935 begonnene Krieg endete bereits im Mai 1936 mit dem Einzug der italienischen Truppen in Addis Abeba und der Ausrufung des Reiches34. Im Laufe weniger Monate wurden, auch dank beträchtlicher Beiträge seitens der Regierung, viele Betriebe nach Äthiopien verlegt. Zur Unterstützung des Regimes bei der Eroberung dieser Gebiete und zur Errichtung zahlreicher Industriebetriebe fuhren 1935/1936 auch 2000 Trentiner Arbeiter nach Ostafrika.35
In Bezug auf Lusérn steht in einer öffentlichen Kundgebung der Gemeinde vom 26. April 193536 zu lesen: »… der ehrenwerte Kommissar für die Emigration und die interne Kolonisation hat verfügt, dass auch ein gewisses Kontingent von Arbeitern unserer Heimat in den Kolonien Italienisch-Ostafrikas eingesetzt werde […]«.
Weiter heißt es: »Dies vorausgeschickt, wurde bestimmt, dass auch in dieser Gemeinde zu dem Zweck eine gewisse Anzahl von Arbeitern– 10 bis 20 – eingestellt wird. Die Abfahrt der Arbeiter muss am 30. dieses Monats erfolgen«.
Aus demselben Dokument geht hervor, dass die Arbeiter zwischen 25 und 40 Jahre alt und im Bau von Straßen, Rampen und anderen Werken erfahren sein mussten; am 27. des Monats hatten sie vor dem Bürgermeister zu erscheinen.
Neben den Arbeitern, die im Anschluss an diese Ankündigung abfuhren, befanden sich in Ostafrika noch Männer, die zuvor für die Militärhandlungen einberufen worden und nach Kriegsende geblieben waren. Wie eine Rekonstruktion des Kulturvereins Lusérn zeigt37, kehrten die abgereisten Arbeiter im Sommer des darauffolgenden Jahres zurück. Am 6. Dezember 1936 fuhr eine neue Gruppe ab. Tags darauf schiffte sie sich im Hafen von Genua nach Addis Abeba ein. Am Bestimmungsort angelangt, wurde sie den Steinbrüchen zugewiesen, die für den Bau der Verbindungsstraße zwischen Addis Abeba und Gimma angelegt worden waren.38
Der Aufenthalt einiger Arbeiter in Ostafrika bedeutete eine wahre Energiespritze für die Bilanz zahlreicher Familien. Nach einer Krisenzeit, in der sich viele verschuldet hatten, bot Afrika eine der wenigen Möglichkeiten zur Wiedererreichung eines bescheidenen Wohlstands.

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1 A. Grandotto, Diario di un prete internato (1915-1916), Roana (VI), Istituto di Cultura Cimbra 1984, zit. S. 7.
2 G. M. Tabarelli, I forti austriaci nel Trentino e in Alto Adige, Trento, Temi 1990; G. P. Sciocchetti, Trasformazione delle forme della fortificazione permanente in montagna realizzate, nel XIX e XX Secolo, nei territori a sud del Valico del Brennero, in C. Gerosa, Le fortificazioni sulla via del Brennero, Rovereto (TN), Museo Storico Italiano della Guerra 1993.
3 Wiener Kriegsarchiv, Technische Blätter des Werks Lusérn, Ms-RB 71, Prot. 1
4 Ebd.
5 R. Cembran, Baon Auer. L'odissea del battaglione dei bersaglieri immatricolati Ora n. IX (1915-1918), Calliano (TN), Manfrini 1992.
6 Die anderen wehrfähigen Männer wurden schon am 1. August 1914 bei Kriegsausbruch auf dem Balkan einberufen. H. von Lichern, Um nicht zu vergessen. Lusérn und die Hochebene im Ersten Weltkrieg. Fotos und Dokumente der Sammlung Lichem und des Dokumentationszentrums Lusérn, München, MediaDom 1998.
7 Diese Information stammt aus Gesprächen mit AC, AM, AO.
8 Es ist nicht auszuschließen, dass Gemeinden von der Abwanderung betroffen waren, in denen kein einziges Kind zimbrischer Eltern geboren wurde.
9 Pfarrarchiv von Lusérn, Geburtenregister, Band IV.
10 D. Nicolussi Paolaz (Hg.), Lusérn vor un dopo in Earst Beltkriage, in Identità, Nr. 2 - Nov. 1990
11 Quelle: Gespräche mit AD, AL, AN, AT.
12 Quelle: Gespräche mit N.M.E., P.A.G. und Z.Z.M.
13 Wiener Kriegsarchiv, technisches Blatt des Werks Lusérn, Ms-RB 71, Prot. 1
14 V. Calì, Lo stato liberale e l'avvento del facismo (1918-1926), in Verschiedene Autoren, Storia del Trentino Comtemporaneo. Dall'annessione all'autonomia, Bd. 1, Trento, Verifiche 1978.
15 R. Palme, Wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Trentino in den Jahren 1918-1920, Bericht der Tagung Luserna 1918: la comunità cimbra sul crinale della propria storia, die in Lusérn (TN) am 7. Nov. 1998 von der Region Trentino Alto Adige und dem Dokumentationszentrum Lusérn veranstaltet wurde.
16 F. Della Peruta, Storia del Novecento. Dalla "grande guerra" ai giorni nostri, Firenze, La Monnier 1993.
17 Ebd.; A. Desideri, Storia e storiografia. Dalla prima guerra mondiale alle soglie del Duemila, Bd. 3, Firenze, D'Anna 1994.
18 A. Desideri, a.a.O.
19 E. Collotti, Il crollo della Borsa di New York. La crisi coinvolge l' Europa e il monde, in A. Desideri, a.a.O.
20 P. Piccoli, Lo stato totalitario (1927-1940), in AA.VV., Storia del Trentino Contemporaneo. Dall'annessione all' autonomia, Bd. III, Trento, Verifiche 1978.
21 Ebd.
22 Wegen ungenügender Erhebungen des Jahres 1930 sind die nächeren Umstände nicht bekannt.
23 P. Piccoli, a.a.O.
24 Die Berechnungen erfolgten auf der Grundlage der Tarife vom 30.11.1932, veröffentlicht im Bollettino del Consiglio Provinciale dell'Economia Corporativa di Trento, Jahr IX, Nr. 12 - Dezember 1932.
25 Nur als Beispiel sei angeführt, dass die Panzerkuppeln des Festungswerke von Krupp, einer deutschen Metallindustrie, erworben wurden.
26 P. Piccoli, a.a.O. Die beiden Orte liegen im Val di Sole und im Valsugana.
27 V. Pedrazza, Gli anni del ricupero, in Identità, Nr. 6 - Dezember 1991, S. 26
28 ACL, SP, Kat. V, VII-36, Inventar der Gemeindegüter 1933, aktualisiert 1937.
29 CL, SP, CAAC, 1935, VII-49, Kat. XIV (öffentliche Sicherheit), Prot. 1960.
30 Materiali e rottami bellici, in Bollettino del Consiglio Provinciale dell'Economia di Trento, Jahr VII, Nr. 4 - April 1930, S. 111
31 CL, SP, CAAC, 1936, VII-56, Kat. XV (Verschiedenes), verpflichtende Erklärung vom 24. November.
32 Zum Vergleich sei angeführt, dass in jenen Jahren ein guter Maurer ca. 2 Lire in der Stunde verdiente.
33 A. Desideri, a.a.O.
34 G. Carocci, L'Imperialismo fascista in Africa, in A. Desideri, a.a.O.
35 P. Piccoli, a.a.O.
36 ACL, SP, 1935, CAAC, Mappe VII-48, Fasz. XI, Öffentliche Kundgebung datiert 26. April 1935.
37 Ass. Cult. Kulturverein Lusérn (Hg.), 1936-1996. Lusérn: a Lant vo emigrént - Luserna: un paese di emigranti - Lusérn: ein Ort der Emigranten, Luserna (TN) 1996.
38 Ebd.

DIE OPTION IN LUSÉRN

Das vielleicht dramatischste Ereignis des 20. Jh. war für die kleine zimbrische Gemeinschaft von Lusérn jedoch die Option– der illusorische Versuch vieler, einer Situation der Armut zu entkommen, unter welcher der Ort schwer gelitten hatte.1

Die »Option« war eine Wahlmöglichkeit, die 1939 die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols und der gemischtsprachigen Zonen der damaligen Tre Venezie erhielt: Sie war vor die Entscheidung gestellt, entweder die italienische Staatsbürgerschaft beizubehalten – und dabei auf die Muttersprache und Jahrhunderte alten Traditionen zu verzichten – oder ins Dritte Reich auswandern und dort die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, aber der Heimat den Rücken zu kehren.
In der Aussicht auf eine gewaltsame Italienisierung der Gebiete, die nach dem Ersten Weltkrieg Italien zugewiesen worden waren, und als Antwort auf die pangermanistische deutsche Politik wurde zwischen dem deutschen Generalkonsul Otto Bene und dem italienischen Untersekretär für Auswärtige Angelegenheiten, Buffalini Guidi, die Umsiedlung der »volklich deutschen Südtiroler« , d.h. der »fremdsprachigen« Südtiroler geplant.2
Die Vereinbarung wurde dann durch ein italienisch-deutsches Abkommen ergänzt, das am 21. Oktober 1939 in Rom, ohne Ratifizierung durch das Parlament, unterzeichnet wurde.
Der Faschismus wollte sich jener Südtiroler Bürger entledigen, die kein Hehl aus ihrer Sympathie für das Deutschtum machten, und die lokale Stadtbevölkerung (die nicht an den Boden gebunden war) durch italienische Zuwanderer ersetzen; die Berggebiete, deren Neubesiedlung weit schwieriger war, wurden zunächst nicht in das Abkommen aufgenommen. Auf italienischer Seite traten der Polizeipräsident Arturo Boccherini und der Untersekretär für innere Angelegenheiten Buffalini Guidi für die totale Abwanderung ein. Deutschland war herzlich wenig um den deutschen Stolz dieser Völker bekümmert: Sein Interesse galt eher dem Ausgleich des Arbeitskräftemangels, der durch die Kriegsvorbereitungen eingetreten war. Außerdem sollten die neuen Zonen, die sich mit der Reichsexpansion nach Osten ergeben würden, nach Enteignung der Slawen durch die Optanten besetzt werden.
Am 23. Juni fand ein neues italienisch-deutsches Gipfeltreffen statt, ohne dass jedoch eine endgültige Entscheidung zustande kam. Die Beschlüsse technischer Art wurden dem Konsul Otto Bene und dem Präfekten von Bozen, Giuseppe Mastromattei, überlassen. Bloß zwei Monate später legte man die strategischen Aspekte der Operation fest:
– Optieren konnten die Bürger, die in der Provinz Bozen, in den gemischtsprachigen Gemeinden des Trentino (die vorher nicht berücksichtigt worden waren) und in den Zonen von Ampezzo und Kanaltal-Val Canale ansässig waren.
– Zum Optieren genügte es, sich an die Ämter der italienischen Gemeindeverwaltungen zu wenden, neben denen deutsche Ämter für die Auswanderung und die Rücksiedlung eingerichtet wurden.
– Es wurden die Umstände der Liquidation der Liegenschaften und die Kriterien für den Transport der beweglichen Güter festgelegt: Die Häuser und Gründe konnten auf dem freien Markt verkauft oder, nach Schätzung durch eine eigene italienisch-deutsche Kommission, einer Treuhandgesellschaft für die Auswanderung der Optanten (DAT3) abgetreten werden.
– Die Abtretungen mussten bis zum 31. Dezember 1941 erfolgen.4
Ein wesentlicher Punkt war noch zu klären: Bis zu dem Zeitpunkt waren keine Kriterien hinsichtlich der Identifizierung, wer volklich deutsch war und das Optionsrecht hatte, aufgestellt worden. Im Oktober nahmen der SS-Kommandant und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler und der Polizeipräsident Arturo Boccherini die Verhandlungen wieder auf und legten als letzten Termin für die Einreichung der Anträge den 13.Dezember 1939 und für den Abschluss der Abtretungshandlungen den 31. Dezember 1942 fest. Die Urkunde zur Belegung der erfolgten Option musste von jedem großjährigen deutschen oder ladinischen Bürger der Provinz Bozen in der Gemeinde, in der erwohnhaft war, oder bei den Stellen der ADEuRST abgegeben werden.5
Die Wahlen verliefen in einem gespannten Klima: Die Propaganda der gegnerischen Parteien stützte sich oft auf Lügen und drohte allen, die ihre Wahl nicht nach den gegebenen Hinweisen treffen wollten, mit dem Schlimmsten6. Auch die Optionshandlungen vollzogen sich oft in höchst unkorrekter Weise.
Als Beispiel sei ein Auszug eines Briefes wiedergegeben, den ein Luserner im Juni 1941 an den Präfekten von Bozen sandte.
»Am Freitag, dem 20. d.M. befand ich mich […] beim Bocciaspiel – es waren einige Liter Wein getrunken worden und als mein Kopf bereits durch Alkohol umnebelt war, ließen sie mich (gemeint sind die Treuhänder des deutschen Konsulats) Papiere unterschreiben, die, wie ich später erfuhr, die Option für Deutschland waren.«
Hinsichtlich des Optionsausmaßes liegen wegen der politischen Fälschungen der Daten durch beide Regime keine sicheren Angaben vor: Nach der italienischen Version von 1945 scheinen 267.238 Personen mit Optionsrecht auf, von denen sich 69,4% für Deutsch und 14,3% für Italien erklärt hatten, während die verbleibenden 16,3% das Optionsrecht nicht nutzten und sich stillschweigend für Italien entschieden.
Die Deutschen schrieben den fehlenden Einschluss Luserns und des Fersentales in die laut Abkommen von 1939 vorgesehenen Gebiete einer Unaufmerksamkeit bei der Abfassung der Richtlinien für die Auswanderung zu. Der Chef der ADEuRST von Bozen und Sturmbahnführer der SS Wilhelm Luig erhielt die Zubilligung von der römischen Regierung, dass die beiden deutschen Minderheiten östlich von Trient in das Gebiet des Abkommens eingeschlossen würden: Es handelte sich um die Gemeinden Lusérn sowie Sant’Orsola mit Palai im Fersental/Palù del Férsina, Sankt Felix/San Felice, Sankt Franz/San Francesco.7
Trotz des Zugeständnisses der Optionsmöglichkeit auch an diese letzten beiden deutschen Sprachminderheiten waren die Probleme – zumindest für die Luserner – nicht zu Ende. Den Bestimmungen zufolge mussten die Anträge bei den Gemeindeämtern eingereicht werden, deren führende Beamten von faschistischer Seite ernannt worden waren: Es konnte demnach vorkommen, dass der Bürgermeister die Annahme der Optionsanträge verweigerte. Unter den Unterlagen, die im Gemeindearchiv von Lusérn gefunden wurden, befand sich ein Dokument8, in dem das Kommissariat für Migration und Besiedlung von Bozen schreibt: »Die Amtliche Deutsche Ein- und Rückwanderungsstelle hat darauf hingewiesen, dass der Bürgermeister von Lusérn sich weigert, die Formulare 1, 2, 3 [die Formulare der Option] anzunehmen und die Fotografien der Optanten für die deutsche Staatsbürgerschaft zu beglaubigen.9« Aus derselben Quelle geht hervor, dass nicht nur die Anträge abgelehnt wurden, sondern der Bürgermeister im Fall von Ermittlungen hinsichtlich des volklichen Ursprungs seiner Bürger leugnete, dass es sich um die Gemeinde einer deutschen Volksgruppe handelte.
Auf einen Brief der Gemeinde Bruneck zur Prüfung der volklichen Zugehörigkeit eines Bürgers von Lusérn, der vorübergehend dort wohnhaft war121, antwortete der Bürgermeister von Lusérn:
»Unter Hinweis auf den Randvermerk wird mitgeteilt, dass Z.Y. von X. und verst. J.K.M. in Prödlitz am … geboren wurde, da sich die Mutter als Flüchtling aus der evakuierten Zone des Grenzgebietes von Lusérn dort befand. Die Eltern, wie die Großeltern, stammen aus Lusérn und sind zweifellos italienischer Rasse und Sprache, da die gesamte Bevölkerung dieser Gemeinde unterschiedslos der Volksgruppe der Hochebenen von Lavarone und Asiago angehört«.10
Die einzige Lösung, die den Lusernern angesichts dieser Haltung blieb, war die Übergehung der Gemeinde und die direkte Einreichung der Optionsanträge bei der ADEuRST von Bozen, doch schützte sie diese Taktik nicht immer vor der Feindseligkeit der lokalen faschistischen Parteimitglieder. Aus einigen in der Gemeinde Lusérn gefundenen Schriftstücken geht hervor, dass es in manchen Fällen zu Problemen bei der Annahme der Optionsanträge kam, da der Bürgermeister die deutsche Volkszugehörigkeit seiner Bürger geleugnet hatte.11
Zur Beteiligung an der Option musste jeder Antrag binnen Dezember 1939 abgefasst und abgegeben werden; die Anträge wurden zwar auch nach dieser Frist noch angenommen, doch entfiel dabei für den Antragsteller jede Form finanzieller Begünstigung. Der Betreffende verzichtete sowohl auf einen günstigen Wechselkurs – 1 Mark für 4,40 Lire statt 1 Mark für 7,63 Lire -, als auch auf die Liquidation für die abgetretenen Güter. Unabhängig vom Übergabedatum verlief die Option der deutschsprachigen Trentiner Minderheiten auf weniger günstige Weise als jene der Optanten, die in den Gebieten des Abkommens von 1939 wohnten.
Aus einem Brief, den die Königliche Präfektur von Trient den Gemeinden Lusérn und Sant’Orsola (Fersental) sandte, geht Folgendes hervor:
»… die Optionsanträge für die deutsche Staatsbürgerschaft, die in den Gemeinden Sant’Orsola und Lusérn eingereicht wurden, sind getrennt von den italienisch-deutschen Abkommen für Südtirol zu behandeln, da die jeweiligen Erklärungen – auch wenn für sie ein beschleunigtes Verfahren zulässig ist – als Ansuchen um den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft entsprechend dem gewöhnlichen, für die Naturalisierungen geltenden Verfahren zu betrachten sind.«12
Von deutscher Seite wurden jedenfalls genügend Sicherstellungen geboten, sodass die Ereignisse nicht im Keim erstickt wurden: Es wurde die kostenlose Umsiedlung in die neuen Länder garantiert und ein Haus mit angeschlossenem Grund zu einem Wert zugesichert, der mindestens jenem des in Italien zurückgelassenen Gutes entsprach. Nach den statistischen Quellen des Reichskommissariats für die Festigung des deutschen Volkstums (RKFdV) vom 10. November 1943 hatten sich 830 Fersentaler und 408 Luserner als Optanten erklärt – etwa die Hälfte der Gemeinschaft von Lusérn und ein Drittel der Fersentaler Bevölkerung13.
Die Ansichten zum günstigsten Zeitpunkt für ihre Auswanderung gingen auseinander: Manche meinten, die Abreise sollte erst nach jener aller Südtiroler erfolgen (wie Luig und Buffalini Guidi mündlich vereinbart hatten); demgegenüber erarbeitete Luig im Jänner 1940 ein Projekt für die Gesamtumsiedlung von Lusernern und Fersentalern und plante eine Art Generalprobe für die Südtiroler Auswanderung14.
Als 1941 Wilhelm Luig zum Oberhaupt der Arbeitsgruppe für die Auswanderung von Lusernern und Fersentalern ernannt wurde, forderten die Ämter des RKFdV von Berlin die Sicherstellung bestimmter Liquidationssummen und die Angabe des neuen Siedlungsraumes. Der RKFdV antwortete zustimmend hinsichtlich der Höhe der Entschädigungen, äußerte sich aber nicht zum Bestimmungsort der beiden Gemeinschaften.
Im September wurden die Optanten informiert, dass die Abreise binnen Herbst erfolgen müsse; zu dem Zweck wurde im Fersental die lokale Stelle der Deutschen Abwicklungs- Treuhand-Gesellschaft (DAT) eingerichtet.
Wegen des bevorstehenden Winters und der bereits gesammelten Vorräte zeigte sich die Bevölkerung unwillig, in dieser Jahreszeit abzureisen, und zwang Luig zur Verschiebung der geplanten sofortigen Abfahrt. Diese Weigerung brachte Luig gegenüber seinen Vorgesetzten in Verlegenheit: Sie wurden sich bewusst, dass das Interesse an der Umsiedlung auch bei vielen Südtirolern abnahm, und erkannten die Notwendigkeit einer sofortigen Umsiedlung. Die Verzögerung der Operationen hatte überdies viele Personen veranlasst, einzeln und unabhängig von jedem Programm abzureisen.
In einem Brief, der dem RKFdV Ende Oktober 1941 gesandt wurde, rechtfertigte Luig die Verspätung mit dem Hinweis, dass für das laufende Jahr die Möglichkeiten für eine Auswanderung der Fersentaler und Luserner nur noch gering waren. Wegen der schlechten Wetterverhältnisse und der schmalen Zufahrtswege zu den Gemeinden, die das Eis unbefahrbar machte, hätte kein Schwerfahrzeug die Trentiner Optanten erreichen können.
Außerdem war die Schätzung der Güter der Auswanderer weit hinter dem Plansoll zu- rückgeblieben: Die Aufsplitterung der Gründe machte es schwer, zu bestimmen, wieviel Eigentum den einzelnen Personen gehörte.
Luigs Plan war eine Gesamtumsiedlung in das Lager von Hallein bei Salzburg.15 In den zwei Gemeinschaften begannen die Vorbereitungen für die Abreise: Möbelstücke und wenige Habseligkeiten der Menschen wurden an angegebenen Stellen der Ortschaften gesammelt, dann verpackt und mit der Bahn nach Hallein geschickt.
Die Optanten überließen der DAT Häuser und Gründe– die auf 3 Millionen Lire für die Zimbern und auf 19 Millionen für die Fersentaler geschätzt wurden – gegen das Versprechen, bei Ankunft am Bestimmungsort Güter desselben Wertes zu erhalten. Aufgrund der Zusicherungen ließen viele Menschen alles hinter sich, um sich eine neue Zukunft aufzubauen – doch das Versprechen wurde nicht gehalten.
Am 21. April fuhren 478 Fersentaler und drei Tage später 192 Luserner nach Hallein, wo sie vorübergehend in Baracken untergebracht wurden; vor ihnen waren 181 Optanten von Lusérn angekommen. Die prekäre Unterbringung führte schon bald zu Missbehagen unter der Bevölkerung; erst im Sommer 1942 suchten die zuständigen Behörden nach einer Lösung, da die Gefahr bestand, die Kunde von dieser Situation könnte sich verbreiten und die Südtiroler davon abhalten, denselben Weg zu gehen.
Trotz des Widerstandes der Münchner Sektion der Nationalsozialistischen Partei wurden die Optanten in etwa achtzig Bauernhöfen untergebracht (zu denen später weitere siebzig hinzukamen), die in Céske Budéjovice (Budweis) in Böhmen, einer der neuen Ostprovinzen des Reiches, verfügbar wurden.
Entgegen den Abmachungen wurden die Bauernhöfe nicht als Eigentum, sondern zur Verwaltung abgetreten. Die von den Auswanderern erzeugten Güter gehörten dem Staat: Die Auswanderer wurden demnach zu entlohnten Arbeitern, die im Haus ihrer Arbeitgeber, d.h. der deutschen Nation, wohnten. Nach einer Rekonstruktion der Ereignisse durch Hans Mirtens16 hatten Zimbern und Fersentaler außerdem große Mühe, sich an das neue Umfeld zu gewöhnen: Erstens waren sie das Bebauen ausgedehnten Ackerlandes nicht gewohnt, zweitens hatten sie keine Erfahrung mit dem Einsatz von Pferden beim Pflügen.
In Hallein waren fünfundneunzig Familien zurückgeblieben, von denen nur dreißig die psychophysischen Merkmale aufwiesen, die das Bezirksamt von Prag für die Ansiedlung in diesen Gebieten forderte. Im Jahr 1943 evakuierte man das Lager und brachte die wenigen dort verbliebenen Familien von Lusérn im Bezirk Salzburg unter17.
In der Zwischenzeit wurde es immer schwieriger, die neuen, durch die deutsche Nation besetzten Gründe zu halten: Mit dem Näherrücken der Frontlinie und der Flucht der deutschen Beamten wurde die Situation für die neuen Siedler immer prekärer, bis ihnen am 8. Mai 1945 nichts übrig blieb, als zu fliehen und die Häuser, die ihnen zugewiesen worden waren, samt ihrem Hab und Gut zurückzulassen. In jenen Tagen holten sich die Tschechen wieder, was ihnen unrechtmäßigerweise genommen worden war.
Die Optanten flohen mit dem wenigen, das sie in Händen tragen konnten: Zu Fuß und darauf bedacht, nicht gefangen genommen zu werden, versuchten sie, in sicherere, noch von den Deutschen kontrollierte Gebiete zu gelangen.
Den Quellen zufolge18 leisteten hier die Alliierten große Hilfe, da sie die Lebensmittel bereitstellten und auch bei den nachfolgenden Operationen der Rückwanderung nach Italien Unterstützung boten.
Wegen des Heranrückens der Roten Armee war das Lager von Ustrom am 25. Jänner evakuiert worden; die Familien langten – am Ende ihrer Kräfte – erst am 19. April im Trentino ein.
Im Sommer 1945 kehrten 91 Personen nach Lusérn zurück, ausgenommen eine Familie, die in Lienz blieb.
Glücklicherweise war noch keiner der Optanten aus den Registern der italienischen Staatsbürger gestrichen worden, sodass alle ohne übermäßige Hindernisse in ihre eigenen Häuser zurückkehren konnten.
In einer Urkunde des Gemeindearchivs von Lusérn steht unter Paragraph 26 des Inspektionsprotokolls im Bevölkerungsregister für das Jahr 1942 zu lesen:
»Wanderbewegung: Wie viele Akten sind in Schwebe? In Schwebe sind alle Akten der meldeamtlichen Personen, die nach Deutschland ausgewandert sind, da diesbezüglich Anweisungen fehlen.«
Nicht ebensoviel Glück hatten jene, die nicht sofort nach Italien zurückkehrten. Mit der Option waren ihre Güter als Eigentum an die Deutsche Liquidations-Treuhandgesellschaft, die staatliche Körperschaft des nationalsozialistischen Deutschlands, gefallen, die 1946 die Beschlagnahme durch den italienischen Staat erlitt.
Am 2. Februar 1948 erließ die italienische Regierung ein Dekret für die Rückoption jener, die aufgrund der Abkommen von 1939 die italienische Staatsbürgerschaft aufgegeben hatten, um die deutsche anzunehmen; doch zum Unterschied von den anderen Gegen- den waren Lusérn und das Fersental nicht von Anfang an betroffen, da sie erst zu einem späteren Zeitpunkt zur Rückoption zugelassen wurden.
Erst mit dem Gesetz Nr. 489 vom 3. August 194919 »Rückgabe der an die Liquidations- Treuhandgesellschaft von Bozen gefallenen Güter an italienische Staatsbürger, die früher in einigen Gemeinden des Trentino ansässig waren«, erhielten die Luserner und Fersentaler einen Teil ihres Eigentums zurück: In der Nachkriegszeit forderten sie von der deutschen Regierung die Wiedergutmachung für den erlittenen Schaden. In den Sechzigerjahren warteten jedoch mehr als 250 Personen noch auf eine Wiedergutmachung20; sie erhielten sie erst im Jänner 1967 – aufgrund eines Abkommens von 1965 – von der Bundesrepublik Deutschland, welche für die DAT-Obligationen verantwortlich war.

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1 Bei einer objektiven Betrachtung der Option von Lusérn, wie sie nur ein Rückblick nach 60 Jahren gestattet, ist die Erscheinung als verzweifelter Versuch vieler Mitglieder der Gemeinschaft zu deuten, einen Ausweg aus einer wirtschaftlich untragbaren Situation zu finden. Ich betone demnach, dass auch im Lichte der zahlreichen gesammelten Zeugnisse als einzige wahre Erklärung für diese Erscheiung die bittere Armut jener Zeit zu sehen ist, in der die Auswanderung notwendig war und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft erfolgte, und dass bloß wenig von dem, was sich zugetragen hat, einer ideologischen Einstellung zugeschrieben werden kann.
2 H. Mock (und andere), L'opzione. Accordi e procedure, in Tiroler Geschichtsverein Bozen (Hg.), Option Heimat Opzioni. Eine Geschichte Südtirols - Una Storia dell'Alto Adige, Innsbruck, Rauchdruck 1989.
3 DAT Deutsche Abwicklungs-Treuhand-Gesellschaft, Società fiduciaria per l'emigrazione degli optanti.
4 H. Mock (und andere), a.a.O.
5 ADEuRST Amtliche Deutsche Ein- und Rückwanderungsstelle, Uffici circoscrizionali germanici per l'organizzazione e l'esecuzione dell'esodo di massa.
6 In Lusérn behaupteten die für die Propaganda Zuständigen dass die Faschisten den Ort mit Neapolitanern besiedeln würden, sobald der Großteil der Bevölkerung für Deutschland optiert hätte (Quelle: AC).
7 H. Alexander, Il lungo cammino. "L'esodo in blocco" dei Lusernesi e dalla Val dei Mocheni - ovvero: Ciò che ai sudtirolesi fu risparmiato, in Tiroler Geschichtsverein Bozen (Hg.), Option Heimat Opzioni. Eine Geschichte Südtirols - Una Storia dell'Alto Adige, Innsbruck, Rauchdruck 1989.
8 ACL, SP, CAAC, 1942, Mappe 137, Kat. XII: Opzioni per la cittadinanza germanica. 1939-1949 (in der Folge: ACL, CAAC, 1942, 137, OPZ), Prot. 2511 vom 19.10.1940.
9 Ebd.
10 ACL, CAAC, 1942, 137, OPZ, Prot. 707 vom 13.03.1940.
11 ACL, CAAC, 1942, 137, OPZ, Prot. 707/1 vom 13.03.1940.
12 ACL, CAAC, 1942, 137, OPZ, Prot. 243 vom 13.03.1940 und folgende.
13 ACL, CAAC, 1942, 137, OPZ, Prot. 871 vom 16.04.1942.
14 Le opzioni a Luserna, in Identità, Nr. 7 - März 1992
15 Ebd.
16 H. Alexander, a.a.O.
17 H. Mirtens, L'emigrazione dei mocheni di lingua tedesca in Boemia nell'anno 1942 e il loro ritorno in patria nell'anno 1945, in Identità, Nr. 7 - März 1992.
18 Nach einer anderen Quelle Oberschlesien, nicht Salzburg.
19 Mündliche Quellen, doch auch M. Garbari, La communità dell'Alta Val del Férsina nel periodo 1939 - 1945. Le opzioni per il Reich fuori Territori dell'Accordo, in G. B. Pellegrini - M. Gretter, a.a.O.
20 Gesetzblatt Nr. 182 vom 10.08.1949; Gesetz Nr. 489 vom 03.08.1949 - "Retrocessione a cittadini italiani già residenti in taluni comuni del Trentino dei beni ceduti alle Società fiduciaria germanica in liquidazione di Bolzano".
21 H. Alessancer, a.a.O.

ZIMBRISCHES BRAUCHTUM VON LUSÉRN

Wir unternehmen nun eine lange Reise, zurück zu einer Zeit, in der »alle Dinge sprechen konnten: die Tiere, die Pflanzen und die Steine«.
Es ist die Zeit des Ursprungs und der Jahrhunderte alten Sagen, von denen im Brauchtum von Lusérn Zeugnisse erhalten geblieben sind.
Die zimbrische Gemeinschaft ist eine Art wundersamer Schmelztiegel: In ihr hat sich die alte deutsche Kultur der Väter mit den Sitten und Gebräuchen der romanischen Umgebung verbunden.
Daraus hat sich eine Fülle von Überlieferungen, Sitten und Gebräuchen entwickelt, die in Lusérn noch greifbar sind und von denen im Alltag dieser Bevölkerung leicht Spuren zu entdecken sind.

Gebräuche im Jahreszyklus:

DIE HL. DREI KÖNIGE
An den kalten Jännertagen, d.h. an den drei Tagen vor dem Dreikönigsfest, gehen bei Einbruch der Nacht Kinder, als Weisen aus dem Morgenland verkleidet, von Haus zu Haus und singen von der langen Reise, die sie zum Stall von Nazareth geführt hat.
Sie führen einen langen Stab mit sich, an dem eine Schachtel mit sternförmigem Ausschnitt befestigt ist, die die Kleinen in den Tagen zuvor angefertigt haben; eine Kerze verströmt daraus sanftes Licht.
Auch die Kleidung ist sorgfältig zusammengestellt und erinnert an die damalige Zeit. Es wird nichts gekauft – noch heute stellen die Mütter und Großmütter diese schönen Gewänder selber her.
Historischen Untersuchungen zufolge ist dieser Brauch bereits für die Jahre nach dem Konzil von Trient belegbar.
Zu bemerken ist, dass dieses Konzil auch wegen seiner (oft erfolgreichen) Anstrengungen bekannt wurde, jede Form des Heidentums zu tilgen, um eine stärkere Verwurzelung des Christentums zu bewirken.
Demnach ist es sehr wahrscheinlich, dass die Sitte der Drei Könige zumindest ursprünglich ein Versuch war, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von heidnischen Festen abzulenken.
In Anbetracht der gegebenen Periode ist dies eine überzeugende Theorie. Die zwölf Tage, die dem Dreikönigsfest vorangingen, hatten im alten Volksglauben einen stark symbolischen Wert.

VORTPREN-BAR DAR MARTZO
Es ist Sitte, in der Nacht zwischen dem letzten Tag im Februar und dem ersten Tag im März ein großes Feuer zu entzünden; um diesen riesigen Scheiterhaufen versammeln sich die Ortsbewohner, um das Ende des strengen Winters zu feiern. Es ist klarerweise ein Feuer heidnischen Ursprungs, das Glück bringen soll und das die schlechte Jahreszeit in Erwartung des Frühjahrs verbrennt.

DIE BITTGÄNGE
In Lusérn beteiligte sich die Bevölkerung an den drei Tagen vor dem Himmelfahrtsfest immer an einer Prozession, die durch die Straßen und über Feldwege führte1. Früh am Morgen begannen der Pfarrer und die Gläubigen den Umzug, wobei sie die Litaneien der Heiligen anstimmten. An den verschiedenen Stationen, die drei Tage lang wechselten, wurde nach dem Verlesen von Stellen des Evangeliums nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, in die vier Himmelsrichtungen gewandt, Segen und Schutz erfleht: Nach Norden hin betete man »a subitanea et improvvisa morte libera nos Domine«, nach Süden »a fulgore et tempestate libera nos Domine«, nach Osten » a peste , fame et bello libera nos Domine« und nach Westen »a flagello et terremoto libera nos Domine«.2
Da ein Großteil der Agrar- und Weidetätigkeit aufgegeben wurde, findet dieser Bittgang heutzutage nicht mehr statt.

DIE FRAU PERTEGA
Die Alten des Ortes erinnern sich sicher noch daran, dass man einst glaubte, unter Lusérn – auf dem Steilhang, der das Val d’Astico beherrscht – befände sich eine Höhle, »Zimmer der alten Ursula« genannt.
In dieser Höhle standen der Sage nach große Tröge, in denen die noch ungeborenen Kinder im Wasser lagen.
Hüter dieses Phantasieortes war ein altes, kräftiges Weib mit langen Zähnen, Frau Pertega genannt3.
Nach den Aufzeichnungen, die Wolfram 1941 in Lusérn machte, dachte man, die Kinder befänden sich auf dem Berghang in der Nähe des Wildbachs Üasn4.
Diese Sagengestalt soll außerdem die Fähigkeit gehabt haben, Gewitter auszulösen, und wenn sie ihre riesigen Tröge auswusch, soll Donnergrollen vernehmbar gewesen sein. Interessant ist der Hinweis, dass diese Kinder für gewöhnlich Vätern verkauft worden wären, die sie wollten, dass Knaben mehr kosteten als Mädchen und dass die hässlichen Kinder billiger waren als die schönen.
Dank der Forschungsarbeit von Schweizer5 verfügen wir über eine Erklärung für den Namen dieser Sagengestalt: Frau Pertega. Pertega geht auf das germanische Berhta zurück und ist mit dem gotischen Bairhts verwandt, das »leuchtend« bedeutet. Grimm6 kommt zu dem Schluss, dass einige Züge dieser Gestalt auf eine heidnische Gottheit zurückzuführen sind, die in der Zeit der Wintersonnenwende erschien. Davon wird das Überleben einer alten Fruchtbarkeitsgöttin abgeleitet (da die Frau viele Kinder zu vergeben hatte), doch auch die Verbindung zwischen Leben und Tod (ein wahrer Totenmythos ist denkbar).
Die Bezeichnung »Frau« deutet auf eine wichtige Person hin (in Lusérn werden die Frauen im Allgemeinen als Baibarn bezeichnet); in phonetischer Hinsicht erinnert sie stark an Freya, eine antike Fruchtbarkeitsgöttin, die mit den Vanen7, Gottheiten der germanischen bäuerlichen Welt, verbunden ist. Bei Vergleich aller bestehenden Versionen der zimbrischen Sage werden zahlreiche gemeinsame Elemente von Freya und Frau Pertega erkennbar.

Brauchtum und Volksglaube in Verbindung mit dem Lebenszyklus:

DIE KINDHEIT
Im Alltag von Lusérn gehört sie zu den Lebensbereichen, um die die zahlreichsten Vorstellungen, mystischen Erwartungen und Ängste kreisen. Das Kind ist das schwächste Glied der Familie und als solches hilfloser gegenüber den Kräften der Dunkelheit und des Bösen.
Die größte Angst ist mit den Abend- und Nachtstunden verbunden – in diesen Augenblicken bewegen sich die Dämonen freier.
Entsprechend dem alten Volksglauben von Lusérn (die Überzeugung hielt bis zum Ende des 19. Jh. an, als ein deutscher Wissenschaftler mit Aufzeichnungen begann) war es nicht ratsam, die Kinder nach Einbruch der Dämmerung außer Haus zu bringen, da die Kleinen hätten verhext werden können. Noch etwas durfte man nie tun: die Größe des Kindes messen oder über es hinwegschreiten, da dies das Wachstum bremsen würde. Dieses letzte Element ist deshalb besonders interessant, da das Überschreiten eines Gegenstandes oder einer Person auf Überlegenheit (stärkere Kraft) desjenigen hinweist, der über den anderen hinwegschreitet.
Man denke bloß daran, dass das Paar am Hochzeitstag, sobald es zum ersten Mal das neue Haus betrat, über einen Besen steigen musste – was ausreichte, um die magischen Kräfte der Hexen zunichte zu machen und um das Haus vor Verwünschung zu bewahren.
Im Zusammenhang mit Neugeborenen glaubte man einst, das Schaukeln einer leeren Wiege würde dem Kind, das später darin liegen sollte, Bauchschmerzen bringen.
Schließlich meinte man, man sollte ein Kind ruhig weinen lassen, da sein Herz durch das Weinen gestärkt würde.

DER TOD
Bis vor wenigen Jahrzehnten galt das Käuzchen (die Klage) als ein mit dem Jenseits verbundenes Tier. Wenn man es inmitten der Nacht in der Nähe eines Hauses rufen hörte, meinte man, es wäre dort jemand gestorben. Schon der Name dieses Tieres weist auf Trauer beim Verlust eines geliebten Menschen hin (klagn).
In dem Zusammenhang berichten einige namhafte Forscher8 vom zimbrischen Brauch der Klageweiber, die beim Tod eines Menschen gegen Bezahlung weinten und wehklagten9. Dieses Weinen steigerte sich in manchen Fällen zum Exzess und wurde zu einem pausenlosen Preisen des Verstorbenen und seiner Verdienste, das kein Ende nehmen wollte.
Gegen diese auf der Hochebene von Asiago verbreitete Sitte des verzweifelten Klagens um die Toten erhoben Priester, aber auch der Bischof von Padua und Papst Clemens XIII. starke Einwände10.
Joseph Bacher (Geistlicher von Lusérn von 1893 bis 1899) zeichnete eine Totenklage auf, d.h. einen Grabgesang, dessen Rhythmus dem der Glocken ähnelt11.
Bacher berichtet, dass sich am Abend die Ortsbevölkerung in das Haus des Toten begab und die Nacht hindurch bis zum Morgen betete. Bei Tagesanbruch wurden Kaffee und ein Stück Brot angeboten. Niemand wagte es in jener Nacht, alleine fortzugehen, da ihm der Geist des Verstorbenen gefolgt wäre. Der Brauch des Brotessens (der bis zu den Dreißigerjahren verbreitet war) ist auf die alte Sitte des »Totenschmauses« zurückzuführen (von dem in Giazza der Ausdruck Kartack erhalten geblieben ist12).
Vorzeichen für den Tod waren neben dem Ruf des Käuzchens das nächtliche Krähen des Hahnes und Träume von Särgen und Kerzenprozessionen. In Lusérn durfte in der Vergangenheit auch die Kette der Herdstelle nicht zu weit herunterhängen, um zu vermeiden, dass die armen Seelen der Vorfahren »verbrannt« werden. Verbreitet war auch der Aberglaube, dass die Seele des Verstorbenen nur ins Paradies gelangen konnte, wenn die Taschen seiner Kleider leer waren.
Der letzte Schritt des traurigen Übergangs war die Beerdigung: Eine Schaufel und eine Hacke wurden überkreuzt in die leere Grabsenke gelegt, um den Mächten des Bösen den Zugang zu dieser Stätte zu verwehren.

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1 Zur Vertiefung s. Luserna Racconta 4. Luserna (TN), Kulturverein Lusérn 1996.
2 Ebd.
3 C. Prezzi, A Luserna in viaggio tra i miti. La Frau Pertega, in LEM Bersntol-Lusérn, Nr. 17 - Sep. 1997.
4 B.Schweizer, Le credenze dei cimbri nelle figure mitiche, Giazza (VR), Taütschas Gareida; B. Schweizer, Il cicli della vita nelle tradizioni cimbre, Giazza (VR), Taütschas Gareida.
5 Ebd.
6 J. Grimm, Deutsche Mythologie, verschiedene Ausgaben.
7 D. Guasco, Miti del Nord, verschiedene Ausgaben.
8 B. Schweizer, A. Dal Pozzo, J. A. Schmeller und andere.
9 C. Prezzi, L'ultimo passo e i suoi risvolti nelle antiche tradizioni di Luserna in LEM Bersntol Lusérn, Nr. 18 - Dez. 1997. Zur allgemeinen Vertiefung des Klagegesag s. E. De Martino, Morte e pianto rituale nel mondo antico.
10 A. Dal Pozzo, Memorie Historiche dei Sette Comuni Vicentini.
11 J. Bacher, Die deutsche Sprachinsel Lusérn, Innsbruck, Wagner 1905
12 B. Schweizer, a.a.O.

DIE ZIMBRISCHE SPRACHE VON LUSÉRN

»Bar mang net å-hevan zo reda vo dar zung vo Lusérn åna zo höara bia si laütet – wir können nicht von der zimbrischen Sprache sprechen, ohne ihren Klang zu hören.
« Das Adjektiv zur Bezeichnung der in Lusérn gesprochenen Sprache leitet sich nicht vom gleichnamigen Volk ab, das von den römischen Legionen 101 n. Chr. bei den Campi Raudi, vermutlich in der Nähe von Vercelli, besiegt wurde, sondern gibt einen altdeutschen Dialekt an.
Die zimbrische Sprache entspricht dem Mittelhochdeutschen mit bairischer Prägung. Diese Sprache gelangte um das Jahr Tausend durch bayrische Siedler, die ihr Land auf der Suche nach neuen Siedlungsgebieten verlassen hatten, auf die Hochebene von Lusérn. Die erste Urkunde, die mit diesen Wanderzügen in Beziehung gebracht werden kann, datiert von 1055; es sind darin die Namen der Familienoberhäupter mit dem entsprechenden Herkunftsort aufgezählt, die in einer Zeit der Hungersnot von ihrer Heimat fortzogen, um sich auf den Gründen des Klosters S. Maria in Organo in Verona niederzulassen.
Zu Beginn des 18. Jh. war die zimbrische Sprache am stärksten verbreitet; in dieser Periode wurde sie in einem weiten Gebiet südöstlich von Trient, zwischen den Flüssen Etsch und Brenta gesprochen. Rund 20.000 Personen pflegten sie, wonach ein langsamer, doch unaufhörlicher Rückgang eintrat, der fast zu ihrem Erlöschen führte.
Von einem weiten Trentiner Gebiet, das einst Heimat der zimbrischen Sprache war, ist der kleine Ort Lusérn als letztes Bollwerk geblieben; die geländebedingte Isolierung der Luserner Hochebene gestattete die Beibehaltung dieses alten Dialekts, der, wie Experten angeben, noch heute einen bemerkenswert konservativen Charakter zeigt.
Hans Tyroller meint, dass die Sprache der Spiegel einer Gemeinschaft ist; die zimbrische Sprache weist einen großen Vokabelschatz in speziellen semantischen Bereichen auf, wie etwa jenen, die mit dem Holz und seiner Verarbeitung, mit der Feldarbeit und den Wetterbedingungen verbunden sind.
Er betont außerdem, dass die Ähnlichkeit zwischen dem Zimbrischen und dem Bayrischen sowohl im phonetischen, als auch im lexikalen System zum Ausdruck kommt. Die Morphologie der zimbrischen Sprache von Lusérn hat eigene, mit dem Deutschen verbundene Regeln entwickelt, sie kann demnach neue Wörter durch einfaches Anfügen von Suffixen integrieren; die Verben werden durch Abfall der Infinitivendung »-are« und durch Anhängen der Endung »-arn« integriert. Die zusammengesetzten Wörter richten sich unterschiedslos nach deutschem oder italienischem Muster.
In der Form löst sich die zimbrische Sprache völlig vom Deutschen und zeigt einen dem Italienischen ähnlichen Aufbau; das Partizip der Vergangenheit steht demnach nicht am Ende des Satzes, in den Nebensätzen steht das Zeitwort nie am Ende.
Was den Sprachforscher beeindruckt, ist der typische Charakter der Sprache sowohl in phonetischer und phonologischer, als auch morphologischer und lexikaler Hinsicht. Ich möchte und kann wegen meiner eingeschränkten Kompetenz hier nicht näher auf diese Aspekte eingehen, weshalb wir nun nach diesem kurzen fachtechnischen Exkurs die aktuelle Situation der zimbrischen Sprache betrachten wollen.
In einem Bericht führt der Wissenschaftler Hans Tyroller an, dass eine linguistische Entlehnung keine Gefahr, sondern vielmehr eine Bereicherung für eine Minderheitensprache darstellt, solange diese imstande ist, die Elemente der Kontaktsprache zu integrieren. Tyroller sagt weiter, dass die Sprache von Lusérn bis heute eine sehr große Fähigkeit zur Integrierung fremdsprachlicher Elemente bewiesen hat.
Dies stimmt sicher, in erster Linie aber für eine Zeit, in der unter der Bevölkerung alle auch Deutsch konnten und die Sprache demnach durch Neologismen aus einer »Schwestersprache« bereichert wurde, d.h. die Integration ergab sich auf natürliche Weise. Heute erfolgt der Vorgang über die italienische Sprache, wobei es leider nicht nur Neologismen sind, die »entlehnt« werden, sondern immer häufiger der italienische Ausdruck einen bestehenden zimbrischen ersetzt.
Es entsteht der Eindruck einer langsamen Untergrabung unseres Wortschatzes. Unter den vielfältigen Ursachen sind als wesentlichste die gemischtsprachigen Ehen, neue Berufe, der Einfluss der Massenmedien und schließlich die Abwanderung zu nennen, die in den letzten Jahrzehnten zu einer wahren Plage für Lusérn wurde: Sie ist auf die Unmöglichkeit des täglichen Pendelns und auf den Mangel an Arbeitsplätzen vor Ort zurückzuführen.
Sichere und aktuelle Angaben zur Situation der zimbrischen Sprache bot die Volkszählung (Landesgesetz Nr. 30 vom 30. August 1999), die ein Bild der zimbrischen Gemeinschaft von Lusérn zum 21. Oktober 2001 zeichnete. Erstmals erhielten die Einwohner von Lusérn und die abgewanderte, in der Provinz Trient wohnhafte Bevölkerung die Möglichkeit zur Erklärung der Volksgruppenzugehörigkeit.
Alles in allem ergibt sich ein beruhigendes Bild: Die zimbrische Minderheit ist zwar zahlenmäßig im Landesbereich die schwächste, aber auch die »aktivste«: Von den 259 in Lusérn wohnhaften Zimbern verfügen zumindest 87,2% über passive Kenntnisse der Minderheitensprache, während 84,2% die Sprache aktiv gebrauchen. Bei näherer Betrachtung der Daten zeigt sich, dass 86,7% der Kinder im Alter bis 10 Jahren die Minderheitensprache verstehen, während 80% sie aktiv gebrauchen. Außerhalb der eigenen »Kulturquelle«, doch innerhalb des Landesgebietes verstehen 80,8% der Zimbern die Sprache der Väter, während 74% sie sprechen.

DIE SITUATION IN DER SCHULE

Das Phänomen der Abwanderung hat, vor allem im Schulbereich, schwere Rückschläge gebracht. Während zu Beginn des 20. Jh. in der kleinen zimbrischen Gemeinschaft zwei Schulen bestanden – eine mit italienischer Hauptsprache, die ca. 20 Schüler umfasste, die andere, deutscher Sprache, mit etwa hundert Mitgliedern -, besuchen heute nur wenige Kinder den kleinen Kindergarten und die Volksschule.
Die rechtliche Voraussetzung für jedes Vorgehen zugunsten der zimbrischen Sprache ist das Autonomiestatut, das den Unterricht der deutschen Sprache und Kultur ermöglicht. Die Grundsatzvorgaben werden durch die Durchführungsbestimmungen, und zwar das Legislativdekret 321 von 1997 angewandt: Es dehnt auf Fersentaler und Zimbern aus, was durch das Legislativdekret 592 vom 16. Dezember 1993 bereits für die ladinische Minderheit festgelegt wurde.
Im Rahmen des Kindergartens wird der Gebrauch der zimbrischen Sprache dank des Landesgesetzes Nr. 18/87 und nachfolgender Änderungen durch die Anwesenheit von muttersprachlichen Lehrern gewährleistet.
Mit dem Dekret des Landshauptmanns vom 12. Juni 2001 Nr. 20-71/Leg wurden die Bestimmungen für die »Feststellung der Kenntnisse der Sprache und Kultur der deutsch- sprachigen Bevölkerungsgruppen der Provinz Trient« festgelegt.
Als sehr wichtig erwies sich schließlich eine Gesetzesbestimmung, die mit dem Haushalt 2001 verbunden ist: Sie führt höhere Flexibilität bei der Zuweisung des Lehrpersonals durch den Hauptschulamtsleiter an die Schulen der zimbrischen Gemeinde ein. Dank eines anderen Gesetzes entstand ein Fond für die Verbesserung der Schulqualität, aus dem Projekte für die Sprachminderheiten finanziert werden.
Während der Kindergarten und die Volksschule im Ort liegen und demnach in erster Linie von Kindern besucht werden, die, wenn schon nicht immer über aktive, so doch zumindest passive Kenntnisse der zimbrischen Sprache verfügen, besuchen die Mittelschule von Lavarone, in die auch die Schüler von Lusérn gehen, im Wesentlichen Schüler Lavarones, die nicht Zimbrisch sprechen, weshalb es schwierig ist die Minderheitensprache in die Schule hineinzutragen.
Seit einigen Jahren läuft in der Volksschule von Lusérn ein Projekt für den Unterricht verschiedener Gegenstände in der Unterrichtssprache Deutsch (dreizehn Wochenstunden). Im Schuljahr 2003/2004 sollte das Projekt auch in der Mittelschule von Lavarone durchgeführt werden.

DIE SOZIO-ÖKONOMISCHE UN POLITISCHE SITUATION

Tatsächlich stellt Lusérn/Luserna die bestandsmäßig größte zimbrisch-deutschsprachige Gemeinschaft dar: Bei der Zählung von 2001 erklärten sich 267 Einwohner (von 297) als der zimbrischen Gruppe zugehörig, wie zusätzlich auch 397 Bewohner anderer Gemeinden der Provinz Trient, zu denen noch einige hundert Abgewanderte zählen, die außerhalb der Provinz (speziell in Bozen) oder im Ausland (in erster Linie Österreich, Schweiz, Deutschland) leben. Allein diese Daten vermitteln uns ein Bild von der prekären Situation unserer Gemeinschaft: Der Großteil der Mitglieder lebt fern dem historischen Siedlungsgebiet, wobei mit der erfolgten Diaspora die reelle Gefahr verbunden ist, dass unter dem Einfluss der neuen Gesellschaft in der 2. oder 3. Generation der Auswanderer eine Assimilierung stattfindet.
Das hat seinen Grund. Unsere zimbrischen Gemeinschaften haben sich nicht bewusst entschieden, sich »aufzulösen«. Es waren äußere Einflüsse, die die zimbrische Bevölkerung gezwungen haben, den Gebrauch ihrer Sprache – ein wesentliches  Merkmal der Volksgruppe– immer weiter zu reduzieren.
Die Arbeitssuche war ein gravierender Grund für die Abwanderung. Lusérn hat nur äußerst geringe Arbeitsplätze zu bieten: Es befindet sich in den Bergen (1.333 m ü.d.M.), 14–17 km von den nächstgelegenen Orten und fast 50 km (beinahe zwei Stunden mit dem Bus) von der Hauptstadt Trient entfernt. Während die Auswanderung bis zu den Sechziger/Siebzigerjahren zumeist saisonbedingt war (Bauwesen, Fremdenverkehr) und ins Ausland führte, richtete sie sich später auf die Orte des Talgrundes (Trient, Rovereto, Bozen) und wurde definitiv.
Einen vielleicht tödlichen Stoß erlitt unsere Gemeinschaft durch die falsche Einschätzung der sozialen Auswirkungen einer großen Zivilreform und mit ihr einhergehender Maßnahmen: die Einrichtung der einheitlichen Mittelschule in Lavarone im Jahr 1964.
Vom Zweiten Weltkrieg bis 1967 zählte die in Lusérn wohnhafte Bevölkerung stabil etwa 650 Einwohner. Im Sommer 1967 schlossen unsere Jugendlichen die Pflichtschule mit dem Mittelschulzeugnis ab, das es ihnen zum erstenmal gestattete, eine Oberschule oder Berufsschule zu besuchen (was mit dem Zeugnis der Volksschul-Übergangsschule, die bis dahin in Lusérn bestand, nicht möglich war).
Da die Schüler mit dem Linienbus um 5.50 Uhr in der Früh von Lusérn wegfahren mussten und erst um 20.00 wieder nach Hause kamen und da die Stipendien höchstens einen Monat der Internatskosten deckten, zogen die betroffenen Familien nach Trient oder Rovereto. In 4 Jahren (1967–71) verlor Lusérn 100 Einwohner, in 14 Jahren (1967–1981) 200, d.h. fast ein Drittel der Bevölkerung.
Und es handelte sich um die junge Generation! Diese fühlt sich zwar noch als zur zimbrischen Gemeinschaft von Lusérn gehörig, wie die Erklärungen bei der Volkszählung 2001 zeigten, doch droht die Bindung zum Heimatort  im Laufe weiterer Generationen, schwächer zu werden.
In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich die Gemeindeverwaltung sehr darum bemüht, sowohl die Infrastrukturen und die Dienstleistungen zu verbessern, als auch den Zusammenhalt der zimbrischen Gemeinschaft zu fördern (Nachrichtenblatt der Gemeinde, Bibliothek, Spielothek, zimbrische Gruppe, Zweijahrestreffen der aus Lusérn Gebürtigen, Einführung eines Schülertransportdienstes, Nutzung der Erträge der Gemeinschaftsgüter für die Schaffung von Arbeitsplätzen und für einen Beitrag zu den größeren Auslagen vom Familien mit Kindern, wie auch für die Werktätigen, die täglich pendeln).
Die Verwaltung hat sich auch sehr für die Wirtschaftsförderung eingesetzt (die unerlässlich ist, um der Gemeinschaft eine Zukunft zu bieten): Sie hat alle Wirtschaftsvorhaben von Privatleuten unterstützt und ist für die Gründung des Konsortiums für Bodenverbesserung, der Arbeitsgenossenschaft Lusérnar scarl, des Kulturinstituts für das Fersental und Lusérn (Förderung der zimbrischen Sprache und Kultur, Verwaltung des Museumshauses), der Stiftung Dokumentationszentrum Lusérn (Museum, Ausstellungen, Tagungen, Studien, Publikationen, www.lusern.it) eingetreten.
Derzeit ist sie bemüht, von der Provinz die Finanzierung für den Erwerb eines bescheidenen, noch fehlenden Areals zu erhalten, wie auch eines Gebäudes für Produktionstätigkeit und Dienstleistungen (zur Vermietung an Handwerker und Kleinbetriebe) und eines Heubäder/Wellness-Zentrums.  Ungeachtet aller Versprechungen schneiden in Geldfragen leider immer die größeren Orte gut ab und erhalten die kräftigsten Investitionen, während die Lösung der Probleme kleinerer Gemeinden immer aufgeschoben wird.
Der Ort zählt zwar wenige Einwohner, doch besteht eine starke Bindung seitens der Abgewanderten, die hier zahlreich den Urlaub und die Feiertage verbringen, wodurch die Beziehungen zu den verbliebenen Einwohnern lebendig bleiben. Wir haben glücklicherweise eine bescheidene Entwicklung von Ferienwohnungen erlebt: Die Luserner verkaufen selten ihre Häuser und ziehen es verständlicherweise vor, das Eigentum den Kindern und Enkeln zu überlassen. Das trägt zur Wahrung eines Identitätsgefühls bei.
Trotz der niedrigen Einwohnerzahl des Ortes weist er ein gutes Dienstleistungsniveau auf: selbständige Gemeinde, Pfarre, Postamt, Bankstelle (2 Tage pro Woche + automatischer Schalter), Stelle zur medizinischen Versorgung (mit Arzt und Krankenschwester, 3 bzw. 5 Mal in der Woche), zwei Geschäfte mit Lebensmitteln und Konsumwaren, eine Friseurin, vier Bars/Restaurants, die das ganze Jahr hindurch geöffnet sind, der Agritur-Betrieb Galeno (mit Restaurant und 30 Betten), das Hotel Albergo Lusernarhof (die Gemeinde hat die Enteignung dreier alter Gebäude vorgenommen und diese umgebaut; sie umfassen nun ein Restaurant, eine Bar, 28 Betten; die Geschäftsführung besorgt eine Familie von Lusérn, www.lusernarhof.it ), eine Buchhaltungskanzlei, zwei Geometerbüros, einige kleine Bau- und Forstbetriebe, dazu noch eine Mehrzweck-Arbeitsgenossenschaft.
Dann sind die kulturellen Einrichtungen zu nennen: das Kulturinstitut für das Fersental und Lusérn (die beiden Institute sind seit 2005 selbstständig), das Dokumentationszentrum Lusérn, der Zimbrische Polyphoniechor, der Pfarrchor, der Kulturverein, der historische Fotoklub »A. Bellotto«, der Freizeitverein Spilbar, die Kurverwaltung, die Feuerwehr. Der Kulturverein verfügt über einen kleinen Fußballplatz, die Gemeinde über einen Tennisplatz, eine Bocciabahn und einen Tagungssaal.
Dramatisch ist hingegen die Situation im Schulbereich: drei Schüler besuchen die Mittelschule von Lavarone, drei Kinder den Kindergarten von Lusérn und drei die Volksschule (drei Tage in der Woche in Lusérn und zwei Tage in Lavarone). Die Mensa wird für alle Einrichtungen gemeinsam geführt, der Betreuer spielt mit den Kindern in der Mittagspause und spricht mit ihnen vorwiegend Zimbrisch. Einige Kinder werden nach Lavarone zur Schule gebracht, wo die Mütter arbeiten.
Wir haben uns gegen den Versuch gewehrt, unsere Schulinstitute zu schließen: Die Eingliederung aller unserer Kinder in die Schule von Lavarone ohne pädagogisch-didaktisches Programm, das unsere sprachliche und kulturelle Besonderheit berücksichtigt, würde die reine, nackte Assimilierung und den Verlust der Sprache und Identität bedeuten. Wir sind hingegen bereit, ein zwei bzw. dreisprachiges Schulmodell ins Auge zu fassen (Italienisch/Deutsch plus einige Stunden Zimbrisch), das für die Schüler von Lavarone und Lusérn einheitlich ist und ihnen mehr als die normale Schule bietet.
In Anbetracht unserer zahlenmäßigen Schwäche und demnach des geringen politischen Gewichts haben wir es als erforderlich erachtet, unsere Rechte als deutsche Volks- und Sprachgruppe geltend zu machen.
Kraft des Pariser Abkommens »De Gasperi–Gruber«, das am 5.9.1946 von Italien und Österreich unterzeichnet und dem Friedensvertrag beigelegt wurde, genießt die Region Trentino-Südtirol eine starke Sonderautonomie, die auf den Schutz der »deutschsprachigen Einwohner der Provinz Bozen und der benachbarten zweisprachigen Gemeinden der Provinz Trient« ausgerichtet wurde. Für die letzteren Gemeinden hat die Provinz Trient nie Interesse bewiesen. Als im Jahr 1992 die Parlamente von Österreich und Italien daran gingen, die sogenannte Streitbeilegungserklärung abzugeben – um vor der UNO die Streitsache abzuschließen, die Österreich in den Sechzigerjahren wegen der Säumigkeit Italiens gegenüber den Südtirolern angestrengt hatte – haben wir als Luserner und Fersentaler Bürgermeister dem österreichischen Vizekanzler und Außenminister Alois Mock, sowie unserem Ministerpräsidenten Giulio Andreotti und Außenminister Gianni Demichelis geschrieben und die Anerkennung gefordert, dass wir als deutschsprachige Einwohner der Provinz Trient durch das Pariser Abkommen geschützt sind.
Im Antrag auf die Schließung der internationalen Streitsache vom 10.6.1992 führt der österreichische Nationalrat unter Punkt 10) an: »… wird die Bundesregierung ersucht, auch dafür einzutreten, dass den deutschsprachigen Sprachinseln in der Autonomen Provinz Trient diejenigen Rechte gewährt werden, die der Pariser Vertrag in seinem Artikel 1 und den Akten seiner Durchführung für diese Gemeinden vorsieht«. Zu bemerken ist, dass die Provinz Trient im dispositiven Teil des Textes nur an dieser Stelle und nur insofern genannt wird, als sich die international geschützten deutschen Sprachinseln der Zimbern von Lusérn und der Fersentaler auf ihrem Gebiet befinden.
Rom (Demichelis) hatte geantwortet, dass die Verpflichtungen laut Pariser Abkommen schon mit dem ersten Statut von 1948 (das die Fersentaler und Zimbern nicht erwähnte) eingehalten worden waren.
Nach fast einem Jahrzehnt unbeirrter, begründeter Forderungen auf rechtliche Anerkennung, bei konstantem Dialog mit allen politischen Kräften und beteiligten Institutionen, wurde mit dem Verfassungsgesetz 2 des Jahres 2001 das Autonomiestatut geändert, wonach nun den Ladinern, Fersentalern und Zimbern der Provinz Trient das Recht auf Schutz ihrer Sprache und Identität zuerkannt wird. Es wurde festgelegt, dass die Provinz Trient entsprechende finanzielle Reserven aufbringen muss, die den Erfordernissen der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der ladinischen, fersentalerischen und zimbrischen Bevölkerungsgruppen angemessen sind. Soweit die Grundsatzerklärung, die wesentlich ist, aber dann doch  mit widersprüchlichen Interessen kollidierte. Wenn es um »Geld« geht, hat immer der Größere und Stärkere die Oberhand, während die Kleineren die Reste erhalten, wenn es welche gibt.
Die »internationale Verankerung » unseres Schutzes wurde durch eine Einladung bestätigt, die ich als Koordinator des »Einheitskomitees der historischen deutschen Sprachinseln in Italien« vom österreichischen Außenministerium erhielt: eine Einladung zur Teilnahme an der Zeremonie zum 10. Jahrestag der Streitbeilegung Österreich-Italien, am 10.6.2002. Als der Klubobmann der ÖVP Andreas Khol – nun Nationalratspräsident – bei der Sitzung des Nationalrats in Wien von den deutschen Sprachinseln des Trentino sprach und sich mit einem Gruß an den anwesenden Bürgermeister von Lusérn richtete, klatschten alle Sektionen Beifall, zum Zeichen der Sympathie und der Bestätigung des Interesses an unseren deutschen Sprachgemeinschaften.
In den letzten Jahren konnten dank der Änderung des Regionalgesetzes 10/88, der Genehmigung des Landesgesetzes 4/1999 und des gesamtstaatlichen Gesetzes 482/99 zahlreiche Projekte eingeleitet werden, die der Aufwertung unserer Sprache und Identität dienen (Nachrichtenblatt der Gemeinde, Radiosendungen, Internet www.luserna.org, Spielothek, Ortsnamensgebung, Kurse, Hinweistafeln usw.).
Abschließend sei Folgendes gesagt: Unsere Situation ist schwierig, doch der Pessimismus der Vernunft wird durch den Optimismus des Willens übertroffen. Den guten Willen sehen wir nicht nur in der Gemeindeverwaltung, sondern auch bei Privatleuten: Dieses Jahr entstanden zum Beispiel zwei kleine Betriebe; derzeit sind vier Gemeindebaustellen offen und doppelt so viele private (8 Wohnungen werden geschaffen bzw. umgebaut). Vor hundertzwanzig Jahren behaupteten manche, die deutschen Sprachinseln des Trentino wären bereits erloschen, doch bin ich heute fest überzeugt, dass unsere Gemeinschaft in ebenso vielen Jahren immer noch bestehen wird.
Sicher müssen alle – öffentliche Verwaltung und Bürger – ihren Teil dazu beitragen!